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31.12.2005

Rückblick 2005 ...

Erwartet hatten wir ein eher mageres Wahljahr mit lediglich zwei – wenn auch nicht politisch unbedeutenden – Landtagswahlen, dafür aber wahlrechtlich wichtigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und möglichen entsprechenden Auswirkungen auf die Gesetzgebung im Bund und den Ländern (vor allem hinsichtlich der Überhangmandate, der Sitzzuteilungsverfahren und der Besetzung von Ausschüssen). So begann das Jahr 2005 auch mit den Nachzählungen in zwei Berliner Wahlkreisen, um die Karlsruhe wegen anhängiger Wahlprüfungsbeschwerden zu den Berliner Zweitstimmen bei der Bundestagswahl von 2002 gebeten hatte. Das von den mandatsrelevanten noch am wahrscheinlichste Ergebnis – die SPD „verliert“ so viele Stimmen, dass sie im Falle einer entsprechenden Entscheidung ein zusätzliches Mandat erhielte, trat jedoch nicht ein – ein Ergebnis, welches der Diskussion um das negative Stimmgewicht um Bundeswahlgesetz sicher gut getan hätte.

Der Bundestag veranstaltete im Februar eine Experten-Anhörung, um die umstrittene Ausschusssitzverteilung der Bundestagsbank im Vermittlungsausschuss verfassungsgemäß gestalten zu können. Dabei wurde in diesem Bereich, in welchem sich Wahl- und Parlamentsrecht sowie Mathematik überschneiden, erstmals in solch einem Rahmen die Meinung eines Mathematikers eingeholt – eine Entscheidung, die sich schon jetzt in der einschlägigen Literatur und Diskussion positiv auswirkt.

Anfang Mai gab das Bundesverfassungsgericht trotz der Bedenken in den gewohnt knappen Berichterstatterschreiben (etwa zu 2 BvC 6/04 oder 2 BvC 11/04) den betroffenen Verfassungsorganen und Parteien Gelegenheit zu Stellungnahmen in den anhängigen Wahlprüfungsbeschwerden wegen der Überhangmandate (2 BvC 6/04) und negative Stimmgewichte (2 BvC 11/04), so dass hier im Gegensatz zu den Verfahren zur Bundestagswahl 1998 mit begründeten Entscheidungen zu rechnen war.

Doch dann kam alles plötzlich ganz anders mit der Neuwahlankündigung am Wahlabend der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Den in Frage kommenden Wahltermin am 18. September 2005 errechnete Wahlrecht.de recht früh. Nach der verlorenen Vertrauensfrage und der Bundestagsauflösung segnete das Bundesverfassungsgericht in einer Mehrheitsentscheidung den stark umstrittenen Weg der unechten Vertrauensfrage ab. (Was die Großen dürfen, dürfen die Kleinen aber noch lange nicht – Selbstauflösung in Bad Iburg unwirksam).

Wie schon 2002 erläuterten wir in unseren Tips und Tricks zur Bundestagswahl 2005, wie man als Wähler Überhangmandate und negative Stimmgewichte bei seiner Stimmabgabe berücksichtigen und sein Stimmgewicht erhöhen kann. Auch machten wir in der Nacht auf den 8. September als erste auf eine notwendig gewordene Nachwahl im Wahlkreis 160 Dresden I und die problematischen Folgen aufmerksam, indem wir die Situation skizzierten, der die Wähler dieses Wahlkreises nach der Hauptwahl gegenüberstehen würden.

Durch die Vorbereitung auf die Neuwahl blieb jedoch manches auf der Strecke. So packte der Bundestag die vom Bundesverfassungsgericht kritisierte Ausschusssitzverteilung nicht mehr an. Und das Bundesverfassungsgericht äußerte sich in den offenen Wahlprüfungsverfahren (Berliner Zweitstimmen, Überhangmandate und negative Stimmgewichte) nicht mehr, obwohl absehbar war, dass die Entscheidungen durchaus Einfluss auf den Ausgang der vorgezogenen Wahl haben konnten und sich bsp. durch die anstehende Nachwahl die Dringlichkeit einer rechtlichen Lösung zeigte. Dafür mussten die Richter vor der Wahl fast im Wochentakt zu allen möglichen Fragen Stellung beziehen – von der Zulassung der Parteien bis zum Streit um die Verkündung des Wahlergebnisses am Tag der Hauptwahl.

Dann war er da, der 18. September (bis dahin hatte Wahlrecht.de von Monat zu Monat immer neue Besucherrekorde, allein am Wahltag kamen etwa 88.000 Besucher auf unsere Seiten). Noch in der Wahlnacht auf den 19. September nannten wir die Namen der Kandidaten, die im vorläufigen Endergebnis angesichts der Nachwahl von als unsicher bis als wahrscheinlich nicht gewählt anzusehen waren. Eine Information, die der letztlich nicht wiedergewählte Cajus Julius Caesar weder vom Bundeswahlleiter noch vom Bundestag oder seiner Fraktion erhielt.

Mit der Wahl am 18. September bestätigte sich, dass bei der Nachwahl allein das negative Stimmgewicht der CDU-Stimmen relevant war. Durch die Informationen von Wahlrecht.de mit Tips zur Nachwahl in Dresden und der intensiven Medienberichterstattung war bekannt, dass die CDU nicht mehr als rund 42.000 Zweitstimmen erhalten durfte. CDU-Anhänger konnten so erfolgreich reagieren, indem sie der CDU die schädlichen Zweitstimmen nicht gaben.

Der Rummel um die Nachwahl ließ auch unsere Telefone vorübergehend nicht stillstehen und führte zu Dutzenden Erwähnungen, Zitaten und Interviews in Mediendiensten, Presse, Rundfunk, Fernsehen (mit ausführlicher Vorführung unserer Excel-Tabelle zur Nachwahl, mit der jedermann den Effekt negativer Stimmen nachvollziehen konnte). Die richtigen Konsequenzen wurden von den Verantwortlichen bisher jedoch noch nicht gezogen bzw. nur angedacht.


Einige Gewählte des Jahres 2005: Papst Benedikt XVI. (Deutscher), Angela Merkel (erste Bundeskanzlerin) und Anette Hübinger, CDU (die dadurch gewählt wurde, dass ihre Partei bei der Nachwahl in Dresden besonders wenige Stimmen erhalten hat.)


... und Ausblick auf das Jahr 2006

Mit den Themen negatives Stimmgewicht, Überhangmandate, Termin der Nachwahl, nicht öffentliche Stimmauszählungen durch Wahlcomputer bzw. Kreiswahlbehörden wird sich im kommenden Jahr der Wahlprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages beschäftigen müssen. Entsprechende Einsprüche haben wir eingelegt bzw. unterstützt oder darüber berichtet (Meldungen vom 31.10.2005, 18.11.2005 und 06.12.2005).

Es ist zu hoffen, dass die Legislaturperiode diesmal ausreichend lang ist, um eine Wahlprüfung durch eine klarstellende Entscheidung und nicht durch eine Neuwahl zu beenden. Dass selbst fünf Jahre manchmal nicht reichen, zeigt das Beispiel der schleswig-holsteinischen Landtagswahl. Viel wichtiger wäre, dass der Bundestag das Thema Wahlgesetz angeht, ohne erst auf eine Entscheidung aus Karlsruhe zu warten.

An das Bundesverfassungsgericht werden wir uns am Ende des neuen Jahres wenden. Solange wird der Bundestag erwartungsgemäß benötigen, um festzustellen, dass er sich gar nicht in der Lage sieht, seine eigenen Gesetze auf Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Erst dann ist der Weg nach Karlsruhe frei. Wir danken allen, die uns bisher ihre Unterstützung zugesagt haben (zum zulässigen Erhebung einer Wahlprüfungsbeschwerde benötigt man 100 Unterstützungsunterschriften) und werden uns nach der Entscheidung des Bundestages bei ihnen melden.

Schon wegen der mehrjährigen Dauer einer Wahlprüfung hoffen wir, dass es im Jahr 2006 keine Bundestagswahl geben wird und es bei den fünf Landtagswahlen (Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt am 26. März 2006 sowie Mecklenburg-Vorpommern und Berlin am 17. September 2006) und der Wiederholungswahl in Leipzig bleibt. Insbesondere das Landtagswahlsystem in Baden-Württemberg ist ein Beispiel, wie man es nicht machen sollte.

Das Jahr 2006 beginnt mit einer vom Sächsischen Verfassungsgerichtshof angeordneten Wiederholungswahl der sächsischen Landtagswahl im Wahlkreis Leipzig 7 am 22. Januar 2006, bei der die paradoxen Überhang- und Ausgleichsmandatregelungen dazu führen, dass keine Partei so richtig ein Interesse an einem Wahlkreisgewinn hat.

Es bleibt abzuwarten, ob die CDU in Hamburg wie geplant, die Änderungen zum neuen Landtagswahlrecht rückgängig machen wird (Meldung vom 31.10.2005), während der Weg zu einem verbesserten Wahlrecht in Bremen (Meldung vom 12.12.2004) nach dem Rückzieher der großen Parteien auf dem Abstimmungswege erreicht werden soll.

Eine Premiere gibt es am 12. Februar 2006 bei der Wahl des Rates in Zürich. Mit der Neuen Züricher Zuteilungsmethode (auch doppelter Pukelsheim) erfolgt hier erstmals die Sitzverteilung mit einem biproportionalen Divisorverfahren.

Für 2006 wünschen wir Ihnen Gesundheit, jede Menge Glück und viel Erfolg.


von Martin Fehndrich und Matthias Cantow (letzte Aktualisierung: 02.01.2006)