Nachrichten

[Archiv 2005] [Aktuelle Meldungen]

08.09.2005

Wahlkreis Dresden I darf am 18. September nicht mitwählen

Aufgrund des Todes der NPD-Kandidatin im Wahlkreis Dresden I wird die Bundestagswahl in diesem Wahlkreis abgeblasen und zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden müssen. Die zu erwartenden Überhangmandate für die CDU in Sachsen könnten diese Nachwahl zu einer Farce machen.

Nachdem sie bei einer Wahlkampfveranstaltung am Montag einen Hirnschlag erlitten hatte, verstarb die erst 43jährige NPD-Kandidatin für den Wahlkreis 160 (Dresden I), Kerstin Bärbel Lorenz, am gestrigen Mittwochmittag. Bereits am Dienstagabend war nach Angaben der Partei der Hirntod festgestellt worden.

Gemäß § 43 Bundeswahlgesetz in Verbindung mit § 82 Bundeswahlordnung hat der Tod eines Wahlkreisbewerbers vor dem Wahltag zur Folge, daß in einem solchen Fall die Wahl im betroffenen Wahlkreis abgesagt und innerhalb von sechs Wochen nach dem ursprünglichen Wahltag wiederholt wird. Die Bürger des Wahlkreises Dresden I werden also am 18. September nicht mitwählen dürfen, sondern erst später erneut zur Urne gerufen werden. Die NPD darf einen neuen Wahlkreiskandidaten benennen. Bereits abgegebene Briefwahlstimmen sind gegenstandslos. Der Wahlkreis Dresden I besteht aus den Ortsamtsbereichen Altstadt, Blasewitz, Leuben, Plauen und Prohlis. Die übrigen Stadtteile Dresdens liegen im Wahlkreis Dresden II und sind von der Nachwahl nicht betroffen.

Für die Wähler im Wahlkreis Dresden I bedeutet dies einen erheblichen taktischen Vorteil, da sie zum Zeitpunkt der Wahl bereits das Ergebnis im übrigen Wahlgebiet kennen und ihr Wahlverhalten danach richten können. Die Dresdner könnten ihre Zweitstimme also beispielsweise gezielt an Parteien vergeben, die nur noch recht wenige Stimmen zum Gewinn eines zusätzlichen Sitzes oder zum Überwinden der Fünfprozenthürde benötigen. Hingegen könnten sie Parteien, deren Sitzzahl aufgrund der feststehenden Ergebnisse derart stabil ist, daß sie durch das Ergebnis im Wahlkreis wohl ohnehin nicht beeinflußt werden könnte, getrost ignorieren.

Zusätzliche Brisanz gewinnt diese Konstellation durch die hohe Wahrscheinlichkeit von Überhangmandaten für die sächsische CDU und des Phänomens eines negativen Stimmgewichts: Die aktuellen Umfragen lassen vermuten, der CDU dürften in Sachsen aufgrund des Zweitstimmenergebnisses ungefähr 12 Sitze zustehen. Abgesehen von den Wahlkreisen in Leipzig und Chemnitz kann man jedoch ziemlich sicher davon ausgehen, daß die CDU alle sächsischen Wahlkreise mit Erststimmenmehrheit gewinnen wird, also mindestens 14. Die sich abzeichnenden Überhangmandate hätten nun aber zur Folge, daß der CDU zusätzliche Zweitstimmen bei der Nachwahl in Dresden nicht nur nicht nützen, sondern sogar schaden würden. In diesem Fall läge es für die CDU nahe, die Dresdner zur Abgabe ihrer Zweitstimme an die FDP aufzufordern, wodurch die Überhangmandate für die CDU erhalten blieben und die FDP gleichzeitig eventuell einen weiteren Sitze gewinnen könnte. Umgekehrt könnte von rot-grüner Gegenseite empfohlen werden, mit der Zweitstimme CDU zu wählen, um dieser zu schaden. (Siehe auch unsere „Tips und Tricks zur Bundestagswahl 2005“.) Alles in allem droht die Nachwahl eine groteske Veranstaltung zu werden.

Angesichts solcher taktischer Möglichkeiten hat das Hessische Wahlprüfungsgericht anläßlich einer Nachwahl in einem Wahlkreis bei der hessischen Landtagswahl 1995 es für unvereinbar mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit bezeichnet, wenn die von der Nachwahl betroffenen Wähler einen derartigen Wissensvorsprung haben. Daher sei es unzulässig, vor dem Zeitpunkt der Nachwahl die Ergebnisse der Hauptwahl zu veröffentlichen (StAnz. Nr. 51/1995 vom 18.12.1995, 4018 <4028 ff.>). Ob so eine Geheimhaltung der Wahlergebnisse bei einer Bundestagswahl praktisch überhaupt umsetzbar wäre, kann man aber wohl mit Fug und Recht bezweifeln. Die Ergebnisse aus dem übrigen Bundesgebiet inklusive der anderen sächsischen Wahlkreise werden von den Kreis- und Landeswahlleitern noch in der Wahlnacht bekanntgegeben. Dennoch wird es am Wahlabend kein vollständiges vorläufiges amtliches Endergebnis geben können. Bei einem sehr knappen Wahlausgang wird die Entscheidung möglicherweise erst bei der Nachwahl in Dresden fallen.

Das Bundesverfassungsgericht mußte sich mit einem derartigen Fall bisher nicht beschäftigen. Zwar gab es auch bei der Bundestagswahl 2002 zwei „Nachwahlen“ (Wahlkreise Zollernalb-Sigmaringen und Passau). Diese konnten jedoch am Tag der Hauptwahl am 22. September 2002 stattfinden, da hier die Wahlkreisbewerber der CDU bzw. PDS bereits Mitte August verstorben waren. Die Möglichkeit, die Nachwahl am eigentlichen Wahltag durchzuführen, ist im vorliegenden Dresdner Fall ausgeschlossen, da nach der Nominierung eines Ersatzbewerbers durch die NPD nicht mehr genug Zeit bliebe, um neue Stimmzettel zu drucken und die Briefwahlunterlagen rechtzeitig (erneut) zu versenden.

Update vom 08.09.2005

Die sächsische Landeswahlleiterin Irene Schneider-Böttcher hat mittlerweile den beschriebenen Sachverhalt bestätigt und angekündigt, die Nachwahl möglichst zeitnah anzusetzen: „Spätestens am ersten Oktober-Wochenende, vielleicht auch noch im September.“

Update vom 15.09.2005

Nachdem der Kreiswahlleiter Detlef Sittel am 8. September gemäß § 82 Abs. 1 Satz 1 Bundeswahlordnung (BWO) im Wahlkreis Dresden I die Bundestagswahl absagte, wurde am 9. September der Termin der Nachwahl durch die sächsische Landeswahlleiterin auf den 2. Oktober 2005 gelegt.

Wahlrecht.de wird noch in der Wahlnacht neben dem bundesweiten vorläufigen Teilergebnis auch Tips und Tricks für die Wähler im Wahlkreis Dresden I sowie die möglichen Auswirkungen auf die Sitzverteilung darstellen.


von Wilko Zicht