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12.09.2005

Strategische Stimmabgabe im Wahlkreis Dresden I – verhindert Karlsruhe eine Wahlfarce?

Die für den 2. Oktober angekündigte Nachwahl aufgrund des plötzlichen Todes einer Dresdner Wahlkreiskandidatin hat in Deutschland eine regelrechte Wahlhysterie ausgelöst. Selbst Hellmuth Karasek äußerte sich heute zu Überhangmandaten, Zweitstimmen und Verhältniswahlrecht – alles Themen, mit denen man zwischen den Wahlen bei den meisten Lesern und Zuhörern bestenfalls müdes Gähnen und Abwinken hervorruft.

Auch wenn Wahlrecht.de schon einige Stunden, bevor die Meldung am Donnerstag morgen durch die Massenmedien verbreitet wurde, neben der Nachwahlankündigung auf die rechtlich problematische Situation hinwies – die meisten Medien legten den Focus ihrer Berichterstattung auf die Verzögerung der Bekanntgabe des Wahlergebnisses durch den Bundeswahlleiter und den Kampf um das Direktmandat. Keineswegs minder spannend ist aber ein Blick auf die möglichen wahlstrategischen Überlegungen, mit denen sich die Dresdner nach dem 18. September auseinandersetzen werden müssen.

So wäre es bei der Bundestagswahl 2002 gewesen

Um keine gewagten Spekulationen über den Ausgang der diesjährigen Wahl anstellen zu müssen, bietet es sich an, von dem Wahlergebnis der Bundestagswahl 2002 auszugehen. Wenn man unter diesen Umständen die Union mit der Zweitstimme wählt, müsste man ihr schon schaden wollen und die Partei um einen Sitz – wie 2002 den ihres Kandidaten Siegbert Meseck – bringen wollen. Politische Gegner der CDU könnten genau aus diesem Grund erwägen, die CDU mit der Zweitstimme zu wählen.

Damit würden (und wurden) die Wähler in Dresden Opfer einer sehr merkwürdigen Eigenschaft des Bundestagswahlsystems, den sogenannten negativen Stimmgewichten.

Denn tatsächlich hatten im Wahlkreis 160 (Dresden I) 49.638 Wähler mit der Zweitstimme CDU gewählt, am Ende also 3.713 CDU-Stimmen zuviel, die dem CDU-Kandidaten Siegbert Meseck das Mandat gekostet haben (Excel-Datei zum Nachrechnen).

Die negativen Stimmgewichte beeinflussen aber nicht nur die Wähler in Dresden. In allen Bundesländern, in denen Überhangmandate auftreten können, gilt für die Anhänger der Überhangpartei bzw. Anhänger des gewünschten Koalitionspartners, daß man mit der Zweitstimme möglichst nicht die überhängende Partei wählen sollte (also z. B. die CDU in Sachsen oder die SPD in Brandenburg – siehe Tipps und Tricks zur Bundestagswahl 2005).

Überhangmandate in Sachsen wahrscheinlich

Notwendig für negatives Stimmengewicht in diesem Umfang und damit für solch abstrus anmutende Wahlempfehlungen ist das Auftreten von Überhangmandaten (bzw. so vielen Direktmandaten, daß Kandidaten auf der Landesliste nicht zum Zuge kommen). Dass es in Sachsen zu Überhangmandaten kommen wird, ist recht wahrscheinlich. Wahlrecht.de kommt bei einer Hochrechnung des Ergebnisses der letzten Bundestagswahl unter Berücksichtigung aktueller Umfragen auf dreizehn gewonnene Wahlkreise für die CDU in Sachsen, aber nur auf einen Anspruch von elf Sitzen nach Zweitstimmen – und damit auf zwei Überhangmandate).

Angesichts dessen könnte es nach dem 18. September in Dresden zu einem äußerst merkwürdigen Wahlkampf kommen. Wahlkämpfer der CDU, die die Wähler auffordern, den CDU-Kandidaten zu wählen, aber bitte, bitte nicht die CDU-Landesliste; und eventuell sogar SPD-Wahlkämpfer, die um Zweitstimmen für die CDU werben, um so die Größe der CDU/CSU-Fraktion zu reduzieren.

Wahlrecht.de wird die Teilergebnisse zusammenstellen

Nach Veröffentlichung der Ergebnisse der anderen 298 Wahlkreise wird Wahlrecht.de eine analoge Berechnung erstellen und veröffentlichen. Und zwar unabhängig davon, ob der Bundeswahlleiter etwas veröffentlichen darf oder nicht, entsprechend der letzten Bundestagswahl versuchen wir wieder früher als der Bundeswahlleiter ein Ergebnis (ein vorläufiges Endergebnis ist es diesmal ja nicht) zu veröffentlichen.

Dies geschieht natürlich nicht, sollten die Wahlurnen am 18. September um 18 Uhr tatsächlich versiegelt bleiben. Dann wundern wir uns aber auch nicht über das, was zwei Wochen später bei der Auszählung der Stimmen herauskommt.

Bundesverfassungsgericht kann negative Stimmgewicht noch rechtzeitig verhindern

Grund dafür sind aber nicht das halbe Dutzend Verfassungsbeschwerden bzw. Eilanträge, die nach den heutigen Agenturmeldungen beim Bundesverfassungsgericht mit dem Ziel erhoben bzw. gestellt wurden, die Veröffentlichung des vorläufigen bundesweiten Ergebnisses zu verhindern und über die, nach Angaben einer Gerichtssprecherin, noch diese Woche entschieden werden soll. Denn hierbei ist nach ständiger Rechtsprechung des Gerichts davon auszugehen, daß diese Beschwerden und Anträge als unzulässig abgewiesen werden und auch durch Geheimhaltung der Ergebnisse verschwindet das negative Stimmgewicht nicht.

Jedoch haben es die Richter des Zweiten Senats noch in der Hand, diesen absurden Effekt des negativen Stimmgewichts rechtzeitig vor der Bundestagswahl 2005 zu verhindern. Eine Wahlprüfungsbeschwerde einer Wählerin gegen die negativen Stimmgewichte der letzten Wahl (also u. a. die o. g. sächsischen negativen CDU-Stimmen, die dem CDU-Mann Meseck das Mandat gekostet haben) ist – 36 Monate nach der letzten Bundestagswahl noch immer (!) – beim Bundesverfassungsgericht anhängig (Az.: 2 BvC 11/04).

Hier muss das Gericht entscheiden, ob es dazu eine Entscheidung treffen will oder aber, ob es sich dieses Themas erst in der nächsten Legislaturperiode anlässlich der Beschwerden gegen die negativen Stimmengewichte der kommenden Wahl annehmen will, nachdem es sich schon vor vier Jahren nicht inhaltlich dazu äußerte. Der Beschwerdeführerin liegt bisher nur ein Schreiben des Berichterstatters vom 9. Dezember des letzten Jahres vor, in dem sich dieser sehr knapp und Manipulationserfolge bestreitend äußert – ein Satz, der den nächsten Beschwerdeführern sehr hilfreich sein könnte.

Zur Vermeidung negativer Stimmgewichte liegen dem Gesetzgeber und dem Bundesverfassungsgericht eine Reihe von Vorschlägen vor, darunter unsere Minimallösung zur Verbesserungen des Bundeswahlgesetzes.


von Martin Fehndrich, Wilko Zicht und Matthias Cantow (letzte Aktualisierung: 13.09.2005, letzte Aktualisierung der Links: 09.06.2011)