Wahlsimplex

[Wahlrechtslexikon]

Ein Wahlsimplex ist die Menge aller Wahlergebnisse mit einer Partition, deren Elemente jeweils eine der möglichen Sitzzuteilungen darstellen. Das Ergebnis jeder Partei wird in einer eigenen Dimension aufgetragen. Da sich die Ergebisse stets zu 100 % addieren müssen, ist der Wahlsimplex ein Körper mit einer Dimension weniger, als es Parteien gibt (m sei die Gesamtzahl der zu vergebenden Sitze):

Die Partitionierung wird durch das Sitzzuteilungsverfahren bestimmt. Die Zuordnung der Grenzen zwischen den Teilbereichen ist im Allgemeinen undefiniert. Wenn das Wahlergebnis auf eine Grenze fällt, wird dann gelost, welche der anliegenden Sitzzuteilungen zum Tragen kommt.

Grafische Darstellung

Im Folgenden sind die Wahlsimplexe für die Verteilung von 10 Sitzen an 3 Parteien zu den Divisorverfahren mit Standardrundung (Sainte-Laguë, oben links) und Abrundung (D'Hondt, oben rechts) sowie dem Quotenverfahren mit Restausgleich nach größten Bruchteilen (Hare/Niemeyer, unten links) grafisch dargestellt. Unten rechts sind die Wahlsimplexe für die Verteilung von 6 Sitzen an 3 Parteien für diese drei Verfahren in einer Grafik kombiniert (Sainte-Laguë schwarz, D'Hondt rot und Hare/Niemeyer grau). Ein Klick auf die jeweilige Grafik führt zu einer entsprechenden Vektorgrafik, die in beliebiger Größe darstellbar ist, soweit das vom Browser unterstützt wird.

[Grafik: Wahlsimplex Sainte-Laguë][Grafik: Wahlsimplex D'Hondt]
[Grafik: Wahlsimplex Hare/Niemeyer][Grafik: Wahlsimplexe für Sitzzuteilungsverfahren im Vergleich]

Jeder Punkt auf dem Wahlsimplex repräsentiert ein mögliches Wahlergebnis. Die markierten Punkte geben die Stellen an, an denen keine Rundung nötig ist, sondern die Sitze exakt zugeteilt werden können. Bei Proportionalverfahren liegen diese Punkte innerhalb oder zumindest am Rand des Bereichs, der dieser Sitzverteilung zugeordnet ist.

Jede Ecke des Dreiecks entspricht einem Wahlergebnis, bei dem eine der Parteien alle Stimmen bekommen hat. An der gegenüberliegenden Seite hat sie dagegen keine einzige Stimme erhalten und die Sitze werden nur zwischen den beiden anderen Parteien verteilt. Zwischen dieser Grundlinie und der Ecke wächst der Stimmenanteil der Partei von 0 % auf 100 %.

Im Wahlsimplex kann man ein konkretes Wahlergebnis markieren und damit sehen, wie knapp das Ergebnis ist, wie nah es also zu einer Grenze zweier Sitzverteilungen liegt. Bei mehreren gleichförmigen Wahlkreisen kann man auch die Ergebnisse vergleichen, insbesondere wenn es überwiegend 3 relevante Parteien gibt, wie etwa in Großbritannien, auch wenn dort die Sitzzuteilung zu einer reinen Mehrheitsentscheidung degeneriert ist.

Am Wahlsimplex kann man sich auch die Eigenschaften der verschiedenen Sitzzuteilungsverfahren veranschaulichen. Insbesondere ist er zur Darstellung diverser Paradoxa geeignet:

Alabama-Paradoxon

[Grafik: Alabama-Paradoxon][Grafik: Kein Alabama-Paradoxon bei Sainte-Laguë]

Dargestellt ist der Wahlsimplex für die Verteilung an 3 Parteien nach Hare/Niemeyer (links) und Sainte-Laguë (rechts). Die Zonen, in denen beim Übergang von 6 (grün) auf 7 (blau) Sitze das Alabama-Paradoxon auftritt, sind rot markiert. Dort erhält eine der Parteien einen Sitz weniger, die beiden anderen einen mehr. Bei Sainte-Laguë tritt kein Alabama-Paradoxon auf; jede Partei behält mindestens ihre bisherigen Sitze. An den Stellen, an denen für den letzten Sitz ein Losentscheid zwischen allen 3 Parteien nötig war, wird allerdings erneut ein Losentscheid nötig, bei dem nun 2 Parteien einen Sitz erhalten.

Wählerzuwachsparadoxon

[Grafik: Wählerzuwachsparadoxon][Grafik: Konsistenz von Sainte-Laguë]

Dargestellt ist der Wahlsimplex für die Verteilung von 5 Sitzen an 3 Parteien nach Hare/Niemeyer (links) und Sainte-Laguë (rechts). Beim Übergang von den grünen Bereichen in die anliegenden blauen Bereiche tritt das Wählerzuwachsparadoxon auf: Die Partei, die von unten nach oben gemessen wird, hat einen großen Zuwachs entlang der roten Linien; gleichzeitig verschiebt sich das Stimmenverhältnis zwischen den beiden anderen Parteien. Die Partei, die sich dabei verbessert, verliert einen Sitz; die, die sich verschlechtert, gewinnt ihn. Die Partei mit dem größten Stimmenzuwachs bleibt unverändert.

Wenn sich bei Sainte-Laguë das Wahlergebnis entsprechend entlang der blauen Linien verschiebt, können die anderen Parteien dabei nur Sitze an die Partei mit der veränderten Wählerzahl verlieren oder sie von ihr gewinnen, weil die Grenzlinien zwischen den verschiedenen Sitzzuteilungen an diese beiden Parteien ebenso wie die Linie der Wahlergebnisse auf die Spitze des Dreiecks zulaufen und so nicht überschritten werden können.

Parteizuwachsparadoxon

[Grafik: Parteizuwachsparadoxon][Grafik: Parteizuwachs bei Sainte-Laguë]

Dargestellt ist der klassischer Fall eines Parteizuwachsparadoxons (New-States-Paradoxon) beim Dazukommen einer dritten Partei und Verteilung nach Hare/Niemeyer (links). Es kann insbesondere auftreten, wenn Sitze nach Bevölkerungszahlen auf Wahlkreise verteilt werden und ein neuer Wahlkreis hinzukommt, für den die Gesamtzahl der Sitze entsprechend seiner Bevölkerungszahl erhöht wird.

Hier werden zunächst 5 Sitze auf 2 Wahlkreise verteilt. Der Wahlsimplex ist dann eine 1-dimensionale Strecke, die grün dargestellt ist. Mit dem Hinzukommen des dritten Wahlkreis wird der Wahlsimplex ein 2-dimensionales Dreieck. Nachdem dem neuen Wahlkreis idealerweise 1 2/3 Sitze zustehen würden, wird die Gesamtsitzzahl um 2 auf 7 erhöht. Die Verteilungen unter den beiden ursprünglichen Wahlkreisen liegen nun auf der grauen Linie. Die roten Pfeile kennzeichnen Stellen, an denen einer dieser Wahlkreise einen Sitz an den anderen verliert, obwohl sich an ihrem Bevölkerungsverhältnis nichts geändert hat.

Bei Sainte-Laguë (rechts) laufen die Grenzlinien der Sitzzuteilungen ebenso wie die verschobenen Ergebnispositionen auf dem Wahlsimpex (blaue Pfeile) auf die Spitze des Dreiecks zu bzw. gehen von ihr aus. Deshalb kann sich die Sitzzuteilung an die ursprünglichen Wahlkreise nicht ändern, solang der neue Wahlkreis tatsächlich die ihm zugedachte Sitzzahl erhält.

Minderheitenpartei-Paradoxon

Das Minderheitenpartei-Paradoxon ist ein Spezialfall des Parteizuwachsparadoxons. Es kann auftreten, wenn eine Partei von der Sperrklausel befreit wird und damit an der Verteilung teilnimmt, ohne eine reale Chance auf einen Sitz zu haben. Faktisch spielt es auch eine Rolle, wenn ohne Sperrklausel Parteien antreten, die vorhersehbar keinen Sitz bekommen.

[Grafik: Minderheitenpartei-Paradoxon][Grafik: Sainte-Laguë, 2 Ebenen]

Dargestellt ist der Wahlsimplex für die Verteilung von 3 Sitzen nach Hare/Niemeyer (links) und Sainte-Laguë (rechts). Das äußere grüne Dreieck stellt die Verteilungen für 3 Parteien dar. Wenn eine vierte Partei an der Verteilung teilnimmt, wird der Wahlsimplex ein 3-dimensionaler Tetraeder mit dem ursprünglichen Wahlsimplex als Grundfläche. Das blaue Dreieck gibt die Begrenzung der Ebene an, auf der sich die ursprünglichen drei Parteien befinden, wenn die vierte Partei die minimale natürliche Sperrwirkung erreicht (hier 1/12 ≈ 8,3 %; 1/4 Sitz Idealanspruch).

Die Ergebnispositionen auf dem Wahlsimpex verschieben sich richtung Spitze des Tetraeders; in der Draufsicht also richtung Mitte der Dreiecke, die die Ebenen kennzeichnen. Da die Grenzflächen zwischen den einzelnen Sitzzuteilungen im unteren Bereich des Tetraeders bei Hare/Niemeyer senkrecht auf der Grundfläche stehen, können sie dabei überschritten werden, womit eine der ursprünglichen Parteien einen Sitz von einer anderen gewinnt, während die zusätzliche Partei weiter keinen Sitz erhält. Beispiele sind mit roten Pfeilen gekennzeichnet.

Grau angedeutet ist der weitere Verlauf der Grenzflächen etwas weiter oben im Tetraeder. Die zusätzliche Partei hat hier einen Anspruch von 3/8 Sitzen und liegt bei 12,5 %. Die dreieckigen Bereiche, die die Sechsecke zunehmend abschneiden, bis sie aneinanderstoßen und selber Sechsecke bilden, gehören zu den Zellen, in denen die zusätzliche Partei bereits einen Sitz erhält. Die inneren Bereiche der einzelnen Sitzzuteilungen an 4 Parteien sind bei Hare/Niemeyer Rhombendodekaeder.

Bei Sainte-Laguë laufen die Grenzflächen zwischen den einzelnen Sitzzuteilungen ebenso wie die verschobenen Ergebnispositionen auf dem Wahlsimpex (blaue Pfeile) auf die Spitze des Tetraeders zu, so dass sie nicht überschritten werden können. Grau angedeutet ist der Verlauf der Grenzflächen in der Ebene, auf der die zusätzliche Partei mit einem Idealanspruch von 3/8 Sitzen die natürliche Sperrwirkung erstmals überwinden kann. Die grauen Punkte geben die Stellen (weiter oben an den Außenseiten des Tetraeders) an, wo eine exakte Sitzverteilung ohne Rundung möglich ist, bei der die zusätzliche Partei genau 1 Sitz erhält. An den nahegelegenen Verzweigungen der grauen Grenzflächen beginnen die Bereiche, in denen eine der ursprünglichen Parteien einen Sitz an die zusätzliche abgeben muss. Eine Verschiebung innerhalb der ursprünglichen Parteien ist aber nicht möglich, solang sich deren Stimmenzahl nicht ändert.


von Martin Fehndrich und Andreas Schneider (25.11.2000, letzte Aktualisierung: 07.08.2010)