15. Deutscher Bundestag |
[Wahlprüfung] |
Informationen zur Entscheidung, Entscheidungen 2000–heute
Beschluss |
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Zum Wahleinspruch | |
des Herrn Dr. M. F., | |
– WP 182/02 – | |
gegen | |
die Gültigkeit der Wahl zum 15. Deutschen Bundestag am 22. September 2002 | |
hat der Wahlprüfungsausschuss in seiner Sitzung vom 16. Oktober 2003 beschlossen, dem Bundestag folgenden Beschluss zu empfehlen: |
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Entscheidungsformel: |
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Der Wahleinspruch wird zurückgewiesen. | |
Tatbestand: |
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Mit einem am selben Tag eingegangenen Schreiben vom 22. November 2002 hat der Einspruchsführer gegen die Gültigkeit der Wahl zum 15. Deutschen Bundestag Einspruch eingelegt. Er stützt sich auf die durch §§ 7 i.V. m. 6 Bundeswahlgesetz (BWG) möglichen so genannten negativen Stimmgewichte und knüpft dabei teilweise an seinen Einspruch gegen die Bundestagswahl 1998. | 1 |
Der die Verfassungswidrigkeit des Bundeswahlgesetzes angesichts möglicher negativer Stimmengewichte geltend machende Einspruch WP 65/98 ist als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen worden, da der Bundestag im Wahlprüfungsverfahren nicht die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes feststelle und überdies die verfassungsrechtlichen Bedenken nicht geteilt wurden (vgl. Bundestagsdrucksache 14/1560, Anlage 67, S. 175 ff.). Das Bundesverfassungsgericht hat die hiergegen eingelegte Beschwerde mit Beschluss vom 22. Januar 2001 (2 BvC 5/99) verworfen und nur ausgeführt, dass sie aus den durch ein Berichterstatterschreiben mitgeteilten Erwägungen offensichtlich unbegründet sei. Im Berichterstatterschreiben wird laut Schreiber (Handbuch des Wahlrechts, 7. Auflage, § 6 Rn. 6b) darauf verwiesen, dass mit der Entscheidung des Gesetzgebers für eine personalisierte Verhältniswahl der Erfolgswertgleichheit aller Stimmen nur eine von vornherein begrenzte Tragweite zukomme, so dass der beanstandete Effekt eines negativen Erfolgswertes der Wählerstimmen, zu dem das Berechnungsverfahren Hare/Niemeyer führe, nicht die Verfassungswidrigkeit der geltenden Regelung bewirken könne. | 2 |
Hiervon unabhängig hat der Bundestag bei Beschlussfassung über die Einsprüche gegen die Wahl 1998 die Bundesregierung gebeten u. a. zu prüfen, ob das Verfahren Hare/Niemeyer durch das Verfahren Sainte Laguë/Schepers ersetzt werden soll (Bundestagsdrucksache 14/1560, S. 3). Der der Prüfbitte nachkommende Bericht vom August 2002 liegt dem Wahlprüfungsausschuss und dem Innenausschuss zu einer von der Behandlung der Wahleinsprüche zu trennenden Beratung vor. | 3 |
Der jetzige Einspruch wird mit mehreren hypothetischen Beispielen begründet, dass sich bestimmte Zweitstimmenergebnisse in einzelnen Wahlkreisen bzw. Bundesländern negativ oder positiv für die gewählte Partei hätten auswirken und zu einem Verlust oder Erwerb von Mandaten dieser Partei führen könnten. Daher seien die Grundsätze der Unmittelbarkeit und Freiheit der Wahl verletzt. | 4 |
So hätte die SPD bei 55 000 Zweitstimmen weniger in Berlin ein weiteres Mandat erhalten. Gleiches gälte, wenn alle 46 428 SPD-Wähler im thüringischen Wahlkreis 190 (Eichsfeld – Nordhausen) nicht an der Wahl teilgenommen hätten. Der gleiche Effekt hätte sich für die CDU bei einer Nichtteilnahme ihrer 41 091 Wähler im Wahlkreis 164 (Chemnitz) ergeben. In Brandenburg hätten 550 Stimmen der SPD einen Sitz gekostet. Hätte die SPD in Hamburg 20 000 Stimmen und zugleich in Brandenburg 5 000 Stimmen jeweils zusätzlich errungen, wäre Abg. Dr. Marlies Volkmer nicht über die Landesliste Sachsen in den Bundestag eingezogen. Schließlich hätte Abg. Rainer Arnold, SPD-Landesliste Baden-Württemberg kein Mandat erworben, wenn in Sachsen-Anhalt weitere 40 000 Stimmen auf die SPD entfallen wären. Der Einspruchsführer bezieht sich auf die Stellungnahme des Bundeswahlleiters in seinem Wahlprüfungsverfahren zur Bundestagswahl 1998, wonach eine Abnahme von Zweitstimmen zu einer Zunahme von Sitzen führen könne und dass ein Stimmengewinn, der für eine Partei insgesamt einen Sitz mehr bringen, unter Umständen gerade in dem Land des Stimmengewinns zum Verlust eines Sitzes führen könne (vgl. Bundestagsdrucksache 14/1560, S. 176). § 7 BWG verknüpfe das Auftreten von Überhangmandaten, von denen eine Landesliste umso mehr bekomme, je weniger Zweitstimmen sie erhalte, mit Listenmandaten dieser Partei derart, dass mehr Stimmen zu weniger Sitzen führten. Dieses System sei keine zwingende Folge der Existenz von Überhangmandaten; vielmehr könnte dies – wie vom Einspruchsführer bereits in seinem früheren Einspruch dargelegt – ohne grundlegende Änderungen des Wahlsystems vermieden werden. Der Effekt negativer Stimmen trete seit 1956 regelmäßig auf und sei teilweise sehr sicher vorhersehbar. Das die Zulässigkeit von Überhangmandaten feststellende Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1997 (BVerfGE 95, 335 ff.) habe sich gerade nicht mit diesem Effekt befasst; daher beträfe die Bezugnahme auf dieses Urteil in der o. g. Wahlprüfungsentscheidung zum Einspruch WP 65/98 gerade nicht dieses Phänomen. | 5 |
Im Ergebnis wird im Einspruchsschreiben, bekräftigt durch ein Schreiben vom 16. Februar 2003, gebeten, ggf. diesen Bezug zu belegen, die in der Wissenschaft herrschende Auffassung zur Zulässigkeit negativer Stimmen zu ermitteln und vor allem ausnahmsweise unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit das Phänomen negativer Stimmen zu prüfen. So dürften Anhänger einer Partei nicht gezwungen sein, diese nicht zu wählen, um ihr zusätzliche Sitze zu verschaffen. Umgekehrt dürfe es Wählern nicht ermöglicht werden, eine Partei zu wählen, um diese durch die Wahl zu schaden. Fraglich sei der Einfluss solcher Eigenschaften auf deren bewußte Wähler, die zum Splitten gezwungen sein könnten, sowie, ob überhaupt noch eine rationale Wahlentscheidung möglich sei, wenn durch das mathematische Verfahren die Umkehrung des Gewollten zu befürchten oder sicher zu erwarten sei. | 6 |
Der Bundeswahlleiter bezeichnet in seiner Stellungnahme die Berechnungsbeispiele des Einspruchsführers, von denen hier zwei zur Verdeutlichung wiedergegeben werden sollen, als zutreffend. Im ersten Beispiel (bei 55 000 Zweitstimmen weniger in Berlin für die SPD ein Mandat mehr) hätte die SPD-Landesliste in Berlin einen Sitz weniger (8 statt 9) und die SPD-Landesliste in Bremen einen Sitz mehr (3 statt 2) erhalten. In Berlin wäre somit bei 9 direkt gewonnenen Wahlkreisen ein Überhangmandat, d. h. insgesamt 5 statt 4, entstanden und hätte zu insgesamt 252 statt 251 Sitzen geführt. Im fünften Beispiel (in Hamburg bzw. Brandenburg 20 000 bzw. 5 000 Zweitstimmen mehr) hätte die SPD-Landesliste in Hamburg einen Sitz mehr (6 statt 5) und in Sachsen einen Sitz weniger (11 statt 12) erhalten. Bei 6 in Hamburg direkt gewonnenen Mandaten entfiele somit das dort bisher gegebene Überhangmandat und der SPD stünden insgesamt 250 statt 251 Sitze zu. | 7 |
Der Bundeswahlleiter bestätigt, dass eine Zunahme von Zweitstimmen für eine Partei unter bestimmten Voraussetzungen zu einer Abnahme bei den Sitzen führen kann; analog könne eine Abnahme von Zweitstimmen eine Zunahme bei den Sitzen zur Folge haben. Dies beruhe auf den Regelungen des Bundeswahlgesetzes zu den Überhangmandaten und könne unter folgenden Voraussetzungen auftreten: Eine Partei hat im Land des Stimmenzuwachses Überhangmandate erzielt. Bei gleicher Sitzzahl nach Zweitstimmen für die Partei insgesamt entfällt bei der Aufteilung auf die Länder auf das Land des Stimmenzuwachses ein Sitz mehr auf Kosten eines anderen Landes. Wegen der Verrechnung mit den Direktmandaten wirkt sich der Gewinn des Sitzes jedoch nicht aus, so dass im Saldo ein Sitz verloren geht. Diese Ausführungen gelten entsprechend bei einer Abnahme von Stimmen. | 8 |
Der Wahlprüfungsausschuss hat nach Prüfung der Sach- und Rechtslage beschlossen, gemäß § 6 Abs. 1a Nr. 3 Wahlprüfungsgesetz von der Anberaumung einer mündlichen Verhandlung abzusehen. | 9 |
Entscheidungsgründe |
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Der Einspruch ist form- und fristgerecht beim Deutschen Bundestag eingegangen. Er ist zulässig, jedoch offensichtlich unbegründet. | 10 |
Soweit der Einspruchsführer seinen Einspruch angesichts des wahlgesetzlich möglichen Phänomens sog. negativer Stimmgewichte mit einer Verletzung der Grundsätze der Unmittelbarkeit und Freiheit der Wahl begründet, kann sich hieraus kein zum Erfolg führender Wahlfehler ableiten lassen. Die Verteilung der Sitze nach der Bundestagswahl 2002 beruht auf einer korrekten Anwendung der geltenden Wahlrechtsbestimmungen. Deren Verfassungswidrigkeit festzustellen, hat der Bundestag in ständiger Praxis als nicht zu seinen Aufgaben gehörend abgelehnt und vielmehr dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. Davon abgesehen teilt der Bundestag schon die verfassungsrechtlichen Bedenken des Einspruchsführers nicht. Dabei wird an der Auffassung festgehalten, die bereits die Ablehnung des Einspruchs WP 65/98 gegen die Bundestagswahl 1998 trägt, auf die an dieser Stelle zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen wird (vgl. Bundestagsdrucksache 14/1560, S. 177 ff.). Im Übrigen ist darauf aufmerksam zu machen, dass auch die gegen die Wahlprüfungsentscheidung vor dem Bundesverfassungsgericht eingelegte Wahlprüfungsbeschwerde als offensichtlich unbegründet verworfen worden. | 11 |
Soweit eingewandt wird, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gehe nicht auf negative Stimmengewichte ein, trifft dies zwar auf die Entscheidungsgründe selbst zu. Bereits in der Wahlprüfungsentscheidung WP 65/98 ist aber angemerkt worden, dass das Urteil in Kenntnis dieses Effekts ergangen ist. Die im Organstreit antragstellende Niedersächsische Landesregierung hat, wie vom Bundesverfassungsgericht vermerkt (BVerfGE 95, 335 <343>), auf diesen Effekt als „inkonsequente Ausgestaltung des geltenden Rechts“, die zu „unsinnigen Ergebnissen“ bei der Sitzzuteilung führe, hingewiesen. Der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin, Prof. Dr. Hans Meyer, hatte bereits 1994 das so bezeichnete Phänomen angesprochen (Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 1994, S. 311<321>). Der Bundeswahlleiter hat sodann in der mündlichen Verhandlung derartige Effekte als möglich bezeichnet (BVerfGE 95, 335 <346>). Damit wird deutlich, dass dem Bundesverfassungsgericht der Effekt negativer Stimmen zwar bewusst gewesen, aber nicht entscheidungserheblich erschienen sein muss. Im Übrigen sei hier auch an den oben zitierten Inhalt des Berichterstatterschreibens im Verfahren 2 BvC 5/99 zur Frage der Erfolgswertgleichheit erinnert. | 12 |
Die angesprochenen Effekte bewegen sich innerhalb des Spielraums, der dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts, z. B. bei der Entscheidung für das anzuwendende Berechnungsverfahren (vgl. BVerfGE 79, 169 <171>), in der Verfassungsrechtsprechung zuerkannt worden ist. Verfassungsrechtlich handelt es sich um Nebenwirkungen, die mit der geltenden Ausgestaltung des Systems personalisierter Verhältniswahl unter Einschluss ausgleichsloser Überhangmandate verbunden sind. Dem steht nicht der Gedanke entgegen, dass einerseits eine Wählerstimme nicht negativ und andererseits eine unterbliebene Wählerstimme nicht positiv gewertet werden darf. Diese Betrachtung bezieht sich nur auf die einzelne Stimme und deren Wertung, verkennt jedoch, dass jede Wertung im Rahmen des geltenden Wahlrechts und abhängig vom jeweiligen wahlrechtlichen Wirkungszusammenhang bis hin zur Nichtberücksichtigung oder Unbeachtlichkeit gehen kann. | 13 |
Der auf plausibel erscheinende Erwägungen gestützten Bitte des Beschwerdeführers, die Zweckmäßigkeit des geltenden Rechts zu überprüfen, kann im Wahlprüfungsverfahren, das der Feststellung der ordnungsgemäßen Zusammensetzung des Bundestages nach einer durchgeführten Bundestagswahl dient, nicht nachgegangen werden. Für entsprechende Prüfungen ist nur Raum im Rahmen anderweitiger Beratungen, die sich auf mögliche Änderungen für künftige Wahlen beziehen. Ebenso wenig wie es Aufgabe der Wahlprüfung ist, Meinungsbilder im rechtswissenschaftlichen Schrifttum zu ermitteln, kann es in diesem Zusammenhang bedeutsam sein, ob sich in der einschlägigen Fachliteratur Stellungnahmen finden lassen, die die hier behandelten Effekte verfassungsrechtlich rechtfertigen. | 14 |