Einspruch gegen die Bundestagwahl wegen negativer Stimmgewichte
Wir werden bis zum Ende der Einspruchsfrist am 18. November 2005 wegen der Möglichkeit und dem Auftreten von negativen Stimmgewichten bei der Bundestagswahl Einspruch beim Deutschen Bundestag gegen die Gültigkeit der Wahl zum 16. Bundestag einlegen.
- Negatives Stimmgewicht bei Bundestagswahlen
- Eine Partei kann wegen mehr Stimmen weniger Sitze erhalten.
- Der Effekt tritt immer dann auf, wenn in einem Bundesland Überhangmandate anfallen, bzw. knapp verfehlt wurden.
- Negative Stimmen treten regelmäßig auf (seit Einführung des Bundeswahlgesetzes 1957).
- Das Auftreten ist insoweit vorhersehbar, entsprechende Wahlempfehlungen gab es vor der Wahl in Zeitungen, Funk und Fernsehen, bei Wahlrecht.de ...
- Sogar eine Landesliste kann durch mehr Stimmen, weniger Sitze erhalten (Beispiel liegt dem Bundestag vor und wurde vom Bundeswahlleiter bestätigt (BT-Drucks. 14/1560, Anlage 67).
- Dies ist kein Diskretisierungseffekt durch die Notwendigkeit Sitze ganzzahlig zuzuteilen.
Der Effekt tritt (und trat) bei allen Berechnungsverfahren (D’Hondt, Sainte-Laguë, Hare/Niemeyer, ...) auf. Er würde darüberhinaus auch dann auftreten, wenn Parteien bei der Oberverteilung, Landeslisten bei der Unterverteilung, der exakte rechnerische Anspruch an Sitzen zugeteilt würde, ohne diesen auf ganzzahlige Sitzzahlen zu runden (Diskretisierung). In diesem Fall würde eine Partei durch negative Stimmgewichte für eine erhaltene Stimme einen Bruchteil eines Sitzes verlieren.
- Dieser Effekt ist dem Gesetzgeber seit mind. zehn Jahren bekannt.
- Einfluß auf das Wahlverhalten (vgl. unsere Tips und Tricks)
- Die Wähler können auf negative Stimmgewicht regieren, indem sie eine Partei dadurch unterstützen, daß sie ihr die Zweitstimme vorenthalten (und ihr dadurch nicht schaden).
- Als Option besteht darüberhinaus die Möglichkeit, die Zweitstimmme einer anderen Partei zu geben (z.B. dem Wunschkoalitionspartner oder der zweitliebsten Partei)
- Es ist kein koordiniertes Wahlverhalten notwendig
- Jede Zweitstimme reduziert die Überhangmandatwahrscheinlichkeit der gewählten Landesliste
- Eine Zweitstimme für eine (kleine) zweitliebste Partei erhöht deren Chance auf ein weiteres Mandat.
- Auftreten bei der Bundestagswahl 2005
- Wenn die CDU in Sachsen 5.000 Zweitstimmen mehr erhalten hätte, hätte die CDU insgesamt einen Sitz weniger (Anette Hübinger).
- Wenn die SPD in Thüringen 40.000 Zweitstimmen weniger erhalten hätte, gäbe es einen SPD Abgeordneten mehr. Wenn auch im Saarland 40.000 Zweitstimmen der SPD vorenthalten worden wären, gäbe es noch einen SPD Abgeordneten mehr.
- Sehr offensichtlich durch Nachwahl im Wahlkreis 160.
- Die Wähler im Wahlkreis 160 wußten (durch regionale und überregionale Presse, Funk, Fernsehen, Internet, z.B. Dresdner Neueste Nachrichten vom 20.09.2005) vor der Nachwahl, daß es nur dann eine Änderung bei der Sitzverteilung (netto) gegeben hätte, wenn die CDU mehr als rund 42.000 Zweitstimmen (ca. 25 %) erhalten hätte. In diesem Fall hätte die CDU einen Sitz verloren.
- Für die Wähler, die das vorl. Wahlergebnis und das Wahlrecht und dessen Auswikungen kannten, boten sich damit zwei Alternativen
- CDU-Anhänger durften keinesfalls der CDU die Zweitstimme geben, um dadurch einen Sitzverlust zu vermeiden.
- CDU-Gegner konnten der CDU die Zweitstimme geben, damit diese einen Sitz verliert.
- Die Wähler haben entsprechend auf den Wahlfehler reagiert. Die CDU erhielt nur 24,4 %, die FDP 16,6 % der Zweitstimmen. Daß die Aufklärung über die Folgen des negativen Stimmgewichts z.T. spät im Laufe der 14 Tage erfolgte erkennt man deutlich am Unterschied des Briefwahlergebnisses (CDU 30,5 %, FDP 10,4 %) und des Urnenergebnisses (CDU 21,93 %, FDP 19,18 %).
- Dieser Einspruch richtet sich explizit nicht gegen die Nachwahl, bzw. den
Termin der Nachwahl. Durch die spätere Nachwahl wurde aber der Wahlfehler Negatives Stimmgewicht einem größeren Teil der Wähler in diesem Wahlkreis bekannt, die entsprechend bei der Nachwahl abstimmen konnten. Das Auftreten des negativen Stimmgewichts ist unabhängig von der Nachwahl. Die fehlende Kenntnis des Wahlsystems bei den Wählern verhinderte, daß diese in gleichem Maße von dem negativem Gewicht ihrer Stimme wußten, wie die Wähler im Wahlkreis 160 am 2. Oktober 2005.
- Es liegt ein Verstoß gegen Art. 38 GG vor (Wahlfehler).
- Keine Wahl
Bei einer richtigen Wahl erhält eine Partei umso mehr Sitze, je mehr Stimmen sie erhält. Wenn eine Partei aber weniger Sitze erhält, weil sie mehr Stimmen erhalten hat, verliert die Wahl ihre Eigenschaft als Zustimmung und wird zur Ablehnung. Vom Standpunkt der Wähler funktioniert das System dann genau entgegengesetzt zur normalen Stimmabgabe. Dies hat aber nichts mehr mit einer demokratischen Wahl zu tun. Selbst wenn man ein Wahlsystem als Ablehnungswahl konstruieren würde, muß für einen Wähler zweifelsfrei feststehen, ob er eine Stimme für oder gegen einen Kandidaten oder eine Partei abgibt.
- Es widerspricht dem Wählerwillen.
Es kann bezweifelt werden, daß es dem Wählerwillen entspricht, wenn eine
Stimmabgabe für eine Partei, zu einem Sitzverlust dieser Partei führen soll.
- Unmittelbarkeit. Die Stimmen wirken nicht direkt, sondern Anhänger einer Partei sind gezwungen ihrer Partei die Stimme zu verweigern, um sie zu unterstützen. In Dresden I konnte man sogar seine Ablehnung gegenüber einer Partei
dadurch ausdrücken, daß man ihr die Zweitstimme gab.
Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verbietet nicht nur die indirekte Wahl; er fordert auch ein Wahlverfahren, in dem der Wähler vor dem Wahlakt erkennen kann, ... wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Mißerfolg der Wahlbewerber auswirken kann (vgl. dazu auch BVerfGE 47, 253 (279 ff.)). In diesem Gewährleistungsinhalt berührt sich die Unmittelbarkeit der Wahl mit dem Grundsatz der Wahlfreiheit, der nicht nur eine Ausübung des Wahlrechts ohne Zwang oder sonstige unzulässige Beeinflussung von außen sichert (vgl. BVerfGE 7, 63 (69); 47, 253 (282)) sondern auch eine Gestaltung des Wahlverfahrens verbietet, das die Entschließungsfreiheit des Wählers in einer innerhalb des gewählten Wahlsystems vermeidbaren Weise verengt (vgl. BVerfGE 47, 253 (283)). (BVerfGE 95, 335 <350>)
- Freiheit. Dadurch, daß die Wähler ihrer Partei mit der Stimme schaden können, werden sie (in Dresden sicherlich erfolgreich) davon abgehalten ihrer Partei die Stimme zu geben.
- Einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz beklagen wir nicht
- Das Prinzip Wahl wird zu weit verletzt, als daß man noch eine Verletzung speziell der gleichen Wahl herauszuarbeiten könnte.
- Es besteht die Gefahr einer Vermischung mit der Problematik „Verletzung des Gleichheitsprinzips durch Überhangmandate“. Es ist zu befürchten, daß man eine Unmenge an Worthülsen aus alten Entscheidungen zu dieser
allgemeinen Überhangmandateproblematik erhält, die nichts mit der Problematik negativer Stimmgewichte zu tun haben.
- Zum Teil wird die Auffassung vertreten, Wahlrechtsgleichheit geböte nicht mehr, als die gleiche rechtliche Möglichkeit für alle Wähler auf das Wahlergebnis Einfluß zu nehmen. Demnach
wäre beispielsweise auch eine Wahl per Lotterie (Lottoscheingleichheit) völlig ausreichend, soweit für alle Beteiligten die gleiche rechtliche Möglichkeit besteht auf das Wahl- (oder Lotto-)ergebnis Einfluß zu nehmen.
- Ehlers und Lechleitner kamen 1997 in der Juristenzeitung zu dem Schluß, daß eine Abweichung von der Gleichheit nur maximal soweit zulässig sein, daß eine Stimme den Wert Null hat (also wertlos verfällt). Ein negatives Stimmgewicht überschreite aber diese Grenze und sei nicht zulässig.
- Das absurde Wahlsystem hat beispielsweise im Wahlkreis 160 dazu geführt, daß es zwei Arten von CDU-Wählern gab,
- die, die die CDU unterstützen wollten und deren Wählerwillen im „Erfolgsfall“ ins Gegenteil verkehrt worden wäre,
- die, die der CDU schaden wollten und zu einem absurden – der Unmittelbarkeit widersprechenden – Wahlverhalten gezwungen waren.
Die Wähler, die letzlich den Erfolg der CDU (den Zusatzsitz von Anette Hübinger) bei der Nachwahl bewirkten, waren die CDU-Anhänger, die der CDU ihre Zweitstimme verweigert haben.
- Der Wahlfehler ist unnötig und vermeidbar
- Es gibt eine Reihe von Alternativen (Vorschläge), bei denen der Wahlfehler nicht auftritt und bei denen die einzelnen Elemente des Wahlsystems „sachgerecht zusammenwirken“.
- Es gibt kein Wahlrechtsprinzip und keine wünschenswerte Wahlrechtseigenschaft, die negative Stimmengewichte erforderten (und durch die Alternativorschläge nicht mehr gegeben wären). So läßt sich eine personalisierte Verhältniswahl recht einfach ohne negative Stimmgewichte
realisieren. Negative Stimmgewichte sind damit keine unvermeidbaren Ungenauigkeiten, die noch im Ermessensspielraum des Gesetzgebers lägen.
- So sieht auch das Bundesverfassungsgericht diesen Entscheidungsspielraum nur dann, wenn die Systeme
sachgerecht zusammenwirken und Unmittelbarkeit und Freiheit der Wahl nicht gefährdet werden.
- Somit gibt es im Bundestagswahlsystem keine Rechtfertigung dafür, daß eine Stimme durch das Berechnungsverfahren insgesamt – statt als Zustimmung für den Gewählten – als Ablehnung gewertet werden kann.
- Unzweckmäßig
- Natürlich ist es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts zu prüfen, ob der Gesetzgeber eine zweckmäßige Lösung gefunden hat, erstaunlicher Weise ist der Bundestag nicht nur der Meinung, er könne die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit seiner Gesetze unterlassen, er fühlt sich auch zu einer Überprüfung der Zweckmäßigkeit nicht zuständig.
Ziel eines Einspruches soll natürlich eine Verbesserung des Bundeswahlsystems sein, so daß am Ende kein Negatives Stimmgewicht mehr möglich ist. Schön wäre auch, wenn sich der 16. Deutsche Bundestag mal mit dem Wahlsystem insgesamt auseinander setzt, und nicht erst darauf wartet, daß ihn das Bundesverfassungsgericht zum Handeln auffordert.
Wir werden daher beim Deutschen Bundestag (Anschrift: Deutscher Bundestag, Wahlprüfungsausschuß, Platz der Republik 1, 11011 Berlin, Fax 030/227-36097) bis zum 18. November 2005 Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl zum 16. Bundestag einlegen und gegen die folgende Ablehnung Wahlprüfungsbeschwerde beim BVerfG erheben. Bei den gemäß § 48 BVerfGG dazu notwendigen Unterschriften können Sie uns gern unterstützen. Um rechtzeitig von der Wahlprüfungsbeschwerde zu erfahren, verfolgen sie die News auf Wahlrecht.de oder senden Sie uns Ihre E-Mail-Adresse, Sie erhalten dann rechtzeitig eine Nachricht von uns.
Die Einsprüche wurden inzwischen eingelegt (WP 162/05, WP 179/05, WP 181/05 ...). Wir erwarten, daß
der Bundestag sich im Herbst 2006 damit befassen wird.