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13.10.2005

Ausgleichsmandateregelung bei Bundestagswahlen?

Im Zusammenhang mit dem verstärkten Anfall von Überhangmandaten bei der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag gibt es nach Presseberichten (FOCUS 41/2005, S. 40 – Bedeutung der Überhangmandate soll verringert werden – Parteien kündigen Initiativen an) Überlegungen bei einigen Bundestagsfraktionen, eine Änderung des Bundeswahlgesetzes anzustreben. Grundsätzlich ist eine Bewegung auf diesem seit Jahren umstrittenen Gebiet natürlich zu begrüßen.

Jedoch ist die von einigen Politikern in Erwägung gezogene Einführung von Ausgleichsmandaten alles andere als eine unproblematische Lösung. Denn Ausgleichsmandate könnten zu neuen Paradoxien und einer Aufblähung des Bundestags führen, ohne negative Stimmgewichte (und damit eine Wahlfarce wie in Dresden) vollständig zu verhindern. Dabei ist eine mathematisch saubere Lösung des Überhangmandatsproblems, die praktisch ohne Ausgleichsmandate auskommt, ohne tiefen Eingriff in das bestehende Bundestagswahlrecht möglich.

Dabei muss man an der Berechnungsvorschrift der Überhangmandate beim Bundestagswahlsystem ansetzen, das zu internen Überhangmandaten führt, also Überhangmandaten, die eine Partei erhält, obwohl ihr viel mehr Sitze zustehen, als direkt gewonnen.

Wahlfarce, wie sie in Dresden offenbar wurde, weiter möglich

Egal wie eine Ausgleichsmandateregelung für interne Überhangmandate aussehen würde – ob Vollausgleich, Teilausgleich, Überausgleich, Neuberechnung auf welcher Basis auch immer: Effekte ähnlich dem negativen Stimmgewicht, das beispielsweise bei bei der Nachwahl in Dresden wieder sehr offensichtlich wurde, wären immer noch möglich.

Bei der Nachwahl in Dresden durfte die CDU nicht mehr als 42.000 Zweitstimmen erhalten, da sie sonst ein Mandat verloren hätte. Dies führte dazu, dass CDU-Anhänger nicht CDU wählen durften, während CDU-Gegner der CDU mit einer Zweitstimme an die CDU schaden konnten. Am Ende obsiegten die CDU-Anhänger: Die CDU blieb mit 38.202 Zweitstimmen unter der schädlichen Marke.

Auch wenn durch Ausgleichsmandate einige der möglichen Szenarien mit negativen Stimmgewichten wegfallen würden, bzw. diese insgesamt nicht mehr so wie jetzt für große Teile der Wähler vorhersehbar sind, können gerade durch handwerkliche Fehler beim Erstellen der Ausgleichsregelung neue dazu kommen. Wir verweisen zur Abschreckung auf den SPD-Gesetzentwurf von 1996 bzw. auf das Landtagswahlsystem in Baden-Württemberg.

So könnten auch weiterhin Anhänger einer Partei gezwungen sein, ihr die Zweitstimme zu verweigern, damit sie ein internes Überhangmandat behält.

Überhangmandat für CDU, Ausgleichsmandat für die CSU

Ein unlösbares Problem für jede Ausgleichsmandatsregelung ergibt sich aus der Besonderheit, dass wahlrechtlich gesehen Koalitionspartener oder Schwesterparteien wie CDU und CSU als quasi gegnerische Parteien um die Mandate konkurrieren. Ein Überhangmandat für die CDU könnte dementsprechend ein Ausgleichsmandat für die CSU zur Folge haben. Und der Verlust eines internen Überhangmandates wegen zu vieler Stimmen würde sicher auch nicht dadurch abgemildert, dass dann auch die CSU ein Ausgleichsmandat verlieren würde ...

Überhangmandate entstehen nur durch das inkonsequente Unterverteilungsverfahren

Die bisher bei Bundestagswahlen aufgetretenen Überhangmandate sind allesamt nur entstanden, weil die Landeslisten einer Partei bei der Oberverteilung der Sitze zwischen den Parteien zwar verbunden sind, bei der Anrechnung der Direktmandate im Rahmen der Unterverteilung aber plötzlich nicht mehr.

Die CDU hat bei der diesjährigen Wahl 103 Direktmandate errungen; bei 173 Mandaten, die ihr proportional zustehen. Die SPD hat 145 Direktmandate, bei 213 Mandaten, die ihr proportional zustehen. Da bedarf es schon ein sehr merkwürdigen Berechnungsverfahrens, dass trotzdem Überhangmandate entstehen können. Die CDU sollte einfach 173−103=70 und die SPD 213 −145=68 Listenmandate für ihre Landeslisten haben.

Für externe Überhangmandate machen Ausgleichsmandate Sinn. Deckelung wichtig.

Erst wenn externe Überhangmandate entstehen, also die Partei mehr Direktmandate erhält als ihr (bundesweit) Sitze zustehen, müsste ggf. eine Ausgleichsmandateregelung eingreifen. Da hier dann aber tendenziell eher eine regionale Partei (vor allem die CSU) betroffen wäre, wäre eine Deckelung der Zahl der Ausgleichsmandate notwendig, um eine Übermaß an Ausgleichsmandaten zu verhindern. Bei einer 5 %-Partei mit Überhangmandaten könnte sich sonst der Bundestag pro Überhangmandat um ca. zwanzig Ausgleichsmandate (!) vergrößern.

Ausgleichsmandate widersprechen dem Ziel der Personalisierung im Bundeswahlgesetz

Die Verteilung von Ausgleichsmandaten (aber auch die von internen Überhangmandaten) erhöht weiterhin den Anteil der über Landeslisten gewählten Abgeordneten – was die bisher als besonderen Vorzug des bundesdeutschen Verhältniswahlrechts gepriesene Personalisierung verringern würde (obwohl Wahlrecht.de zu diesem Zweck andere Möglichkeiten für weitaus geeigneter hält). Auch das Bundesverfassungsgericht sah im Überhangmandatsurteil vom 10. April 1997 (BVerfGE 95, 335) und seitdem in verschiedenen Schreiben des Berichterstatters in Wahlprüfungsverfahren (zuletzt am 20. Januar 2005) die

engere persönliche Beziehung zumindest der Hälfte der Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu ihrem Wahlkreis (vgl. BVerfGE 95, 335 <358>).

als besonderes Anliegen des Gesetzgebers. Eine größere Anzahl von Listenmandaten durch Ausgleichsmandate würde diesem, vom Verfassungsgericht hervorgehobenen Ziel jedoch zuwiderlaufen.

Lösungen

Das Problem der internen Überhangmandate ließe sich durch eine einfache Korrektur, einer vernünftigen Berechnungsreihenfolge, aus der Welt schaffen: Zuerst würden die Direktmandat bestimmt und zugeteilt, dann berechnete man die Listenmandate und dann verteilte man diese Listenmandate (und eben nur diese und nicht mehr) an die Landeslisten.

Das heißt, eine Proporzverzerrung durch interne Überhangmandate ist überflüssig und vermeidbar, Ausgleichsmandate sind unnötig. Da bei einer derartigen Lösung kaum noch taktische Anreize für ein Stimmensplitting übrig bleiben, wäre auch insgesamt mit weniger internen Überhangmandaten zu rechnen.

Neben dem Verbesserungsansatz von Wahlrecht.de hat Professor Friedrich Pukelsheim von der Uni Augsburg einen sauberen mathematischen Ansatz entwickelt, die direktmandatsbedingte Divisormethode (vgl. Spektrum der Wissenschaft, März 2004, S. 96: Das Kohärenzprinzip, angewandt auf den Deutschen Bundestag).

Auf jeden Fall sollte die Diskussion über das Wahlrecht unabhängig von etwaigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes begonnen werden. Will man eine Ausgleichsmandatsregelung, so sollte unbedingt der vom Innenministerium empfohlende Wechsel vom Quotenverfahren mit Restausgleich nach größten Bruchteilen (Hare/Niemeyer) zum Divisorverfahren mit Standardrundung (Sainte-Laguë) umgesetzt werden, da sich Hare/Niemeyer mit Ausgleichsmandatsregelung nur schwer verträgt. Aber auch unabhängig hiervon ist dieser Schritt zur Vermeidung einiger Paradoxien und Inkonsistenzen überfällig.


von Martin Fehndrich (letzte Aktualisierung: 13.10.2005)