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27.07.2005

Ministerpräsident Böhmer trotz rechtlicher Bedenken in Mandat nachgerückt

Der Landeswahlausschuss des Landes Sachsen-Anhalts hat zum umstrittenen Nachrücken in ein nicht ausgeglichenes Überhangmandat (Ministerpräsident Böhmers Einzug in den Landtag umstritten – Meldung vom 26. Mai 2005) am 28. Juni eine Entscheidung getroffen.

Nachdem Gerhard Ruden (CDU) wegen seiner Wahl zum Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen des Landes Sachsen-Anhalt zum Amtsantritt am 15. Juni auf sein Mandat verzichten musste (LT-Drs 4/2199), stellte der Landeswahlausschuss am 28. Juni einstimmig fest, dass der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, Wolfgang Böhmer, die nächste noch nicht für gewählt erklärte Ersatzperson des Landeswahlvorschlages der CDU ist und damit – trotz von anderer Seite vorgebrachter verfassungsrechtlicher Bedenken – gemäß § 40 Abs. 5 S. 1 Landeswahlgesetz Sachsen-Anhalt (LWahlG ST) nachrückt.

Am gleichen Tag wurde der Regierungschef von dieser Entscheidung benachrichtigt und nahm das Mandat an. Die Annahmeerklärung ging dem Landeswahlleiter am 1. Juli zu (LT-Drs. 4/2273), womit Wolfgang Böhmer seit Monatsbeginn Mitglied des Landtags in Magdeburg ist.

Bisherige Nachrück-Praxis in Sachsen-Anhalt

Sachsen-Anhalts homogene Wählerstruktur und das in allen ostdeutschen Ländern vom alten Bundesgebiet abweichende Kräfteverhältnis der Parteien begünstigen bei einem personalisierten Verhältniswahlsystem mit einem grundsätzlich hälftigen Anteil an Direktmandaten das Entstehen von Überhangmandaten. Das gilt sowohl für die Landtagswahlen (bisher für die SPD 1998 acht bzw. für die CDU 1990 acht und 2002 sieben Überhangmandate) als auch für Bundestagswahlen (für die CDU 1990 drei und 1994 zwei bzw. für die SPD 1998 vier und 2002 zwei Überhangmandate).

Diese Vielzahl an Überhangmandaten macht natürlich auch das Nachrücken in den Überhang bedeutsam. Schon zu Beginn der konstituierenden Sitzung des ersten Landtags nach der Wiedereinführung des Landes Sachsen-Anhalt am 28.10.1990 kam es zu einem Streit über das Nachrücken in eines der Überhangmandate (LT-Plenarprotokoll 1/1, S. 4–8). Nach dem noch von der 10. DDR-Volkskammer beschlossenen Länderwahlgesetz wurden diese nicht ausgeglichen. Damals rückte für Armin Kleinau der Listenführer der CDU-Landesliste Gerd Gies nach, der noch in der ersten Landtagssitzung zum Ministerpräsidenten des Landes Sachsen-Anhalt gewählt wurde.

Die Opposition war der Ansicht, dass wegen der acht nicht ausgeglichenen Überhangmandate der CDU erst neun Abgeordnete auf ihr Mandat verzichten müssten, damit Gert Gies hätte nachrücken können. Diese Rechtsauffassung wurde erst Jahre später durch einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 1998 – 2 BvC 28/96 – (BVerfGE 97, 317) zur – hinsichtlich der nicht ausgeglichenen Überhangmandate – gleichen Regelung des Bundeswahlgesetzes bestätigt. So wie Gies rückten in der ersten Legislaturperiode jedoch noch weitere fünf CDU-Politiker in den Landtag nach – ein Wahlprüfungsverfahren hat es, trotz der entsprechenden Äußerungen in der Debatte, nicht gegeben.

Mit dem Wahlgesetz des Landes Sachsen-Anhalt vom 11. Dezember 1992 wurde dann ein Regelung zum Ausgleich von Überhangmandaten eingeführt, die die Zahl der Ausgleichsmandate jedoch auf die Zahl der Überhangmandate beschränkte. Diese – vor allem beim Anfall von Überhangmandaten kleiner Parteien – durchaus sinnvolle Klausel kann aber dazu führen, dass nur ein Teilausgleich stattfindet.

Durchgeführt wurde ein Ausgleich der angefallenen Überhangmandate erstmals mit der Wahl zum 3. Landtag im Jahre 1998. Durch die Kappung der Zahl der Ausgleichsmandate konnten aber auch zum ersten Mal nicht alle, bei dieser Wahl von der SPD gewonnenen Überhangmandate vollständig ausgeglichen werden. Am 19. Januar 1999 rückte Krimhild Fischer in solch ein nicht ausgeglichenes Überhangmandat nach, da am 8. Januar 1999 Wolfgang Eichler (beide SPD) auf sein Mandat verzichtete (LT-Drs. 3/812, 3/876, LT-ST PP 3/13 vom 21.01.1999).

Zu diesem Zeitpunkt war zwar schon der oben angesprochene BVerfG-Beschluss (BVerfGE 97, 317) bekannt, anscheinend wurde er aber nicht auf den Sachverhalt der Eichler-Nachfolge bezogen. Erst mit dem späteren Urteil des LVerfG Brandenburg vom 12. Oktober 2000 – auf die Wahlprüfungsbeschwerde eines jungen Rechtswissenschaftlers hin – wurde erstmals von einem Verfassungsgericht auch das Nachrücken in Überhangmandate bei Landeswahlgesetzen mit Ausgleichsmandatsregelungen problematisiert.

Nachrücken im aktuellen Fall

Im Fall des Nachrückens in das Mandat von Gerhard Ruden war diese Rechtsprechung – auch durch die Meldung von Wahlrecht.de – nun hinreichend bekannt. Der Landeswahlausschuss hielt sich an den Wortlaut des Landeswahlgesetzes, das einige Jahre vor den Verfassungsgerichtsentscheidungen vom Landtag verabschiedet worden war und – seitdem unverändert – für diesen Sachverhalt eine Regelungslücke aufweist. Eine Begründung der Wahlausschussentscheidung gab es nicht.

Fest steht aber, dass zur Zeit des Mandatsverzichts von Gerhard Ruden zwei nicht ausgeglichene Überhangmandate der CDU bestanden und Wolfgang Böhmers Mandat weder durch einen Wahlkreisgewinn noch – solange nicht noch zwei weitere Unions-Abgeordnete auf ihr Mandat verzichten – durch das Zweitstimmenergebnis der CDU legitimiert ist.

Erfolgsaussichten einer Wahlprüfungsbeschwerde

Möglich ist nun, dass ein im Land Sachsen-Anhalt Wahlberechtigter oder eine Landtagsfraktion zur rechtlichen Klärung des Sachverhalts gegen die Entscheidung des Landeswahlausschusses Einspruch beim Landtag in Magdeburg einlegt und danach Wahlprüfungsbeschwerde beim Landesverfassungsgericht in Dessau erhebt. Die Beschwerde hätte gute Aussicht auf Erfolg. Allerdings ist nicht wahrscheinlich, dass es in diesem Zusammenhang zu einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung kommt.

Zum einen ist ist die Einspruchsfrist im Wahlprüfungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt mit einem Monat sehr kurz, so dass die Kenntnisnahme des Vorgangs durch die Wahlberechtigten unwahrscheinlich ist. So gab es in den Medien anscheinend keine Berichte. Auch die Landtagsverwaltung, die noch beim letzten Nachrücken eines Abgeordneten eine eigene Pressemitteilung herausgab, schwieg zu dem Mandatsübergang. Das Plenarprotokoll der Sitzung vom 7. Juli, in der das Nachrücken Böhmers bekannt gegeben wurde, ist erst Mitte Juli erstellt worden und noch heute ist Böhmers Vita nicht unter den Abgeordnetenbiographien abrufbar (obwohl eine Seite aus den letzten Legislaturperioden sicherlich noch vorhanden ist). Zudem gab zwar der Landeswahlleiter eine Pressemitteilung heraus, die aber nicht im Internetangebot abrufbar und nur auf Anfrage erhältlich ist. Da nach § 3 Wahlprüfungsgesetz das Zustellungsdatum der Entscheidung des Landeswahlausschusses Fristbeginn ist, ist eine Kenntnisnahme der Bevölkerung vor dem Fristende eigentlich ausgeschlossen. Daher ist als Fristbeginn eher auf die Bekanntmachung der Entscheidung des Landeswahlausschusses im Ministerialblatt für das Land Sachsen-Anhalt abzustellen, die bis Mitte Juli noch nicht erfolgte. Trotzdem bleibt auch mit diesem Fristbeginn wenig Zeit für einen fundierten Einspruch.

Zum anderen gibt es im Wahlprüfungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt eine weitere hohe Zulässigkeitshürde, wie sie sonst nur noch – gleich oder ähnlich – in zwei Bundesländern zu finden ist. So müssen einem Wahlberechtigten schon für den Einspruch beim Landtag, bei dem eine verfassungsrechtliche Prüfung gar nicht stattfindet, einhundert Wahlberechtigte beitreten. Zusammen mit der kurzen Monatsfrist ist es damit einem einfachen Wahlberechtigten, dazu im aktuellen Fall noch in der Urlaubsaison, quasi unmöglich, bei einem nicht einfachen Sachverhalt genügend Beitrittswillige zu finden.

Sollte der Einspruchsführer die Zulässigkeitshürden trotzdem meistern, kann er gegen die beim Landtag zu erwartenden Zurückweisung seines Einspruchs beim Landesverfassungsericht wieder innerhalb eines Monats Wahlprüfungsbeschwerde erheben. Auch hierzu müssen ihn einhundert Wahlberechtigte unterstützen – eine doppelte Hürde die wenig Sinn macht und schon selbst in den Verdacht einer Verfassungsrecht (Art. 44 Abs. 1 der Landesverfassung Sachsen-Anhalt) verletzenden Regelung kommt.

Wenn nicht vorher der Landtag eine Ablehnung zu lange verzögert (eine in diesem Fall notwendige verfassungsrechtliche Bewertung wird in der deutschen Wahlprüfungspraxis allein dem Verfassungsgericht überlassen), ist eine Entscheidung der Verfassungsrichter noch vor der Konstituierung des neuen Landtags nach der Landtagswahl am 26. März 2006 möglich.

Bedeutung einer verfassungsgerichtlichen Klärung für die Zukunft

Gerade da der vorlegende Sachverhalt wenig Einfluss auf das klare Kräfteverhältnis der Fraktionen im Landtag am Domplatz hat und es sicherlich auch für den populären und über Fraktionsgrenzen hinweg angesehenen Ministerpräsidenten Wolfgang Böhmer nicht wichtig ist, ob er seine Regierungsaufgaben mit oder ohne Landtagsmandat erfüllt, wäre es sehr zu begrüßen, wenn nun eine Überprüfung durch das Landesverfassungsgericht erfolgt. Denn solche Nachrück-Fälle wird es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch in den nächsten Legislaturperioden geben.

Besonders die wahlrechtlichen Probleme der letzten Zeit, wie etwa die Wahlrechtsstreitigkeiten im 15. Deutschen Bundestag (Berliner Zweitstimmen, Überhangmandate) und die daraus zum Teil erwachsenen Probleme (z.B. Sitzverteilung im Vermittlungsausschuss) beweisen, wie wichtig eine klare Regelung scheinbarer Detailfragen ist. Selbst die Bedeutung einzelner Mandate zeigte sich wieder vor ein paar Monaten (Landtagswahl Schleswig-Holstein).

Für eine künftige Landesregierung in Sachsen-Anhalt wird es sonst bei Ausbleiben einer Klärung ungewiss bleiben, ob eine etwaige, auf unausgeglichenen Überhangmandaten beruhene Mehrheit über die gesamte Legislaturperiode Bestand haben wird. Dass solch ein Szenario nicht unwahrscheinlich ist, zeigte ja die Begründung des Bundeskanzlers vom 1. Juli zu seiner dem Bundestag gestellten Vertrauensfrage – hier verwies er auch auf die nicht nachzubesetzenden Überhangmandate als Grund für die schwindende Mehrheit. Nebenbei bemerkt belegte der Bundeskanzler damit auch eine Begründung einer Wahlprüfungbeschwerde (2 BvC 6/04) gegen die im Bundeswahlgesetz bestehende Überhangmandatsregelung, die 1.039 Tage nach der letzten Wahl noch immer beim Bundesverfassungsgericht anhängig ist.

Bleibt die Wahlprüfung dagegen aus wird Wahlrecht.de wahrscheinlich in einiger Zeit wieder über einen gleichen Sachverhalt berichten müssen, dann womöglich mit einer anderen Bedeutung für die Sitzverteilung im sachsen-anhaltinischen Landtag.


von Matthias Cantow