Nachrichten08.04.1998[News-Index]

BVerfG: Nachrückerregelung verfassungswidrig

Scheidet ein direkt gewählter Wahlkreisabgeordneter aus dem Deutschen Bundestag aus, dessen Partei in dem betreffenden Bundesland Überhangmandate errungen hat, so darf der ausgeschiedene Wahlkreisabgeordnete nicht durch einen Listenkandidaten ersetzt werden. Mit diesem Beschluß zeigt das Bundesverfassungsgericht erstmals seit längerem wieder ein wenig Sensibilität gegenüber fragwürdigen Wahlrechtsbestimmungen. Den betroffenen Abgeordneten des Bundestags ihr Mandat folgerichtig abzuerkennen, dazu konnten sich die Karlsruher Richter freilich dann doch nicht durchringen. Ausgelöst wurde die Entscheidung vom Fall des südbadischen CDU-Abgeordneten Rainer Haungs. Jener hatte 1994 bei der Bundestagswahl im Wahlkreis Emmendingen/Lahr das Direktmandat errungen, starb aber 1996. Für ihn rückte von der CDU-Landesliste der Oberschwabe Franz-Xaver Romer nach. So war man schon immer verfahren, doch jetzt erhob ein Bürger Beschwerde. Erst vor dem Bundestag, der den Einspruch im Juni 1996 zurückwies (hier der BT-Beschluß im Wortlaut), dann vor dem Bundesverfassungsgericht. Der Einwand des Beschwerdeführers, Hendrik Schütte aus Warstein-Sichtigvor: In Baden-Württemberg hatte die CDU zwei Direktmandate mehr errungen, als ihr nach ihrem Zweitstimmenergebnis Sitze zustanden. Wenn nun ein baden-württembergischer Abgeordneter sterbe, so könne auch eines dieser Überhangmandate wegfallen, meinte Schütte, weil diese ohnehin das Wahlergebnis verfälschten. Dies leuchtete dem Zweiten Senat des Verfassungsgerichts unter Leitung der Präsidentin Limbach ein. Nach Auffassung der Richter sind die Voraussetzungen einer demokratischen Wahl nur gewahrt, wenn die Ersatzleute für vorzeitig ausscheidende Abgeordnete entweder nachgewählt werden oder wenn sie, wie seit 1953 Gesetz, schon am Wahltag mitgewählt worden sind. Nach dem geltenden Wahlrecht würden aber mit der Erststimme für den Wahlkreisbewerber nicht alle Bewerber der Landesliste als Ersatzleute für ihn mitgewählt. Als Nachrücker für die direkt gewählten Abgeordneten seien vielmehr nur so viele mit den Zweitstimmen gewählte Landeslistenbewerber legitimiert, wie der Partei nach ihrem Stimmenanteil zustehen. Da die Überhangmandate nur von der Mehrheit der Erststimmen, nicht aber zugleich vom Zweitstimmenergebnis getragen würden, könne kein Kandidat von der Landesliste für einen direkt gewählten Abgeordneten nachrücken, solange seine Partei in dem betreffenden Land über Überhangmandate verfüge. Erst wenn sie abgebaut seien, könne der Platz des Direktkandidaten ersetzt werden.
Dennoch blieb auch Schüttes Klage nicht das Schicksal aller anderen bisherigen Wahlprüfungsbeschwerden vor dem Bundesverfassungsgericht erspart: Sie wurde als unbegründet abgewiesen. Beim entscheidenden Punkt, der Aberkennung des Mandats Romers (und auch des Mandats der thüringischen CDU-Abgeordneten Holzapfel, die im November 1997 auf gleiche Weise in den Bundestag nachgerückt war), wollten die Richter dem Beschwerdeführer nämlich nicht folgen: "Die dem angefochtenen Bundestagsbeschluß zugrundeliegende und der ständigen Rechtspraxis entsprechende Rechtsauffassung kann bis zum Ende der 13. Legislaturperiode hingenommen werden. Die bisherige Anwendung des § 48 Abs. 1 BWG auch auf Fälle der Mandatsnachfolge in "Überhangländern", war bislang unumstritten. Der eingeschränkte Regelungsgehalt ist bisher nicht erkannt worden. Die Folgen, die einträten, wenn der bisherigen Handhabung des § 48 Abs. 1 BWG nunmehr kurz vor dem Ablauf der 13. Legislaturperiode der Boden entzogen würde, sind im einzelnen nicht einzuschätzen. Bleibt es bis zum Ende der 13. Legislaturperiode übergangsweise bei der bisherigen Anwendung, so sind die nur noch für wenige Monate eintretenden Folgen demgegenüber absehbar und hinnehmbar. Rückwirkung könnte der Feststellung der Ungültigkeit des Erwerbs der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag gemäß § 47 Abs. 2 BWG ohnehin nicht zukommen. Die Sitze der beiden ausgeschiedenen Abgeordneten wären mithin - unabänderlich - über einen Zeitraum von dreizehn und vier Monaten mit Abgeordneten besetzt gewesen, deren Mitgliedschaft ungültig erworben worden war. Wird dieser Zustand noch bis zum Ende der Legislaturperiode aufrechterhalten, so fällt dies nicht mehr entscheidend ins Gewicht." [aus: Pressemitteilung des BVerfG]
Mit anderen Worten: Da sich Bundestag und Bundesverfassungsgericht mit der an sich gebotenen Stattgebung des Einspruchs fast zwei Jahre Zeit gelassen haben, ist er nun abzulehnen, zumal das Ausscheiden zweier nicht demokratisch gewählter Hinterbänkler aus dem Bundestag den deutschen Parlamentarismus in eine tiefe Krise stürzen könnte. Einmal mehr haben die Karlsruher Richter damit bewiesen, daß Prof. Hans Meyer, der im vergangenen Jahr in Karlsruhe mit seiner Klage gegen die Überhangmandate scheiterte, den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, als er das Wahlprüfungsverfahren als "Wahlprüfungsverhinderungsverfahren" bezeichnete.

Wortlaut des Beschlusses