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27.03.2011

Wahlrechtsbesonderheiten in Baden-Württemberg

Heute wird in Baden-Württemberg ein neuer Landtag gewählt. Das dabei verwendete Wahlrecht sticht gegenüber den anderen Landtagswahlsystemen durch einige Besonderheiten hervor. So gibt es keinerlei Parteilisten, alle Wahlbewerber kandidieren in Wahlkreisen. Gewählt sind die Wahlkreissieger und die erfolgreichsten Wahlkreisverlierer einer Partei. (Siehe hierzu im Einzelnen unsere Beschreibung des Landtagswahlrechts in Baden-Württemberg.) Außergewöhnlich ist vor allem aber auch der Mechanismus zur Entstehung von Überhangmandaten und Ausgleichsmandaten, der im Gesetz zudem so unklar formuliert ist, dass es mehrere Interpretationsmöglichkeiten gibt (Regelungslücke).

Interne Ausgleichsmandate für interne Überhangmandate

Im ersten Rechenschritt werden die Sitze auf Landesebene proportional (zum ersten Mal nach Sainte-Laguë) zu den landesweit erreichten Stimmenzahlen auf die Parteien verteilt. Die Sitze einer Partei werden daraufhin, wieder nach Sainte-Laguë, auf die vier Regierungsbezirke verteilt. Dort – auf Bezirksebene – entstehen dann Überhangmandate, wenn die Partei im Regierungsbezirk mehr Wahlkreise direkt gewonnen hat als ihr in der Unterverteilung zufallen. Insofern ähnelt es noch dem Verfahren bei Bundestagswahlen, wo Überhangmandate in den meisten Fällen bei der parteiinternen Unterverteilung auf die Landeslisten entstehen; allein die CDU in Baden-Württemberg kam bei der letzten Bundestagswahl 2009 in den Genuss von zehn Überhangmandaten.

Anders als bei Bundestagswahlen werden bei Landtagswahlen in Baden-Württemberg den übrigen Parteien Ausgleichsmandate gegeben. Der Ausgleich der Überhangmandate geschieht dabei nicht auf Landesebene, sondern auf Bezirksebene. Die Maßstäbe Parteienproporz im Land und Proporz der Bezirke untereinander werden dabei zugunsten eines Parteienproporzes innerhalb eines Regierungsbezirkes aufgegeben. Dabei hat man sich anscheinend am biblischen Prinzip „Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluss haben“ (Mt 25,29) orientiert, denn gerade die Regierungsbezirke, in denen durch Überhangmandate eh schon zu viele Sitze entstanden sind, erhalten dafür auch noch weitere Ausgleichssitze.

Die Sitzzahl im Regierungsbezirk wird also so lange erhöht, bis die überhängende Partei in diesem Regierungsbezirk so viele Proporzsitze hat, wie sie Direktmandate gewinnen konnte. Obwohl alle Überhangmandate ausgeglichen werden, bleibt dennoch eine (kleine) systematische Verzerrung zugunsten der Überhangpartei: Sie profitiert nach dem Ausgleich stets vom Vorteil des letzten Sitzes. Dieser Aufrundungsvorteil beträgt durchschnittlich jeweils rund einen halben Sitz. Da es vier Regierungsbezirke gibt – Stuttgart, Karlsruhe, Freiburg und Tübingen – könnte insofern eine in allen Bezirken überhängende Partei also im Saldo von durchschnittlich zwei Zusatzsitzen profitieren. Wohlgemerkt: Das sind grobe Durchschnittswerte, die Schwankungsbreite ist in beide Richtungen beträchtlich! Abgesehen hiervon gibt es in der konkreten politischen Situation in Baden-Württemberg aber auch einen gegensätzlichen Effekt durch die unterschiedliche Gewichtung von Stimmen nach Regierungsbezirk. Überhangmandate in größerem Ausmaß wird es aller Voraussicht nach nämlich nur in Stuttgart, Karlsruhe und evtl. Freiburg geben, während in Tübingen allenfalls mit einem geringen CDU-Überhang zu rechnen ist. In Tübingen konnte die CDU bei der letzten Landtagswahl aber ihr bestes Ergebnis erzielen, während sie in den anderen drei Bezirken deutlich geringere Stimmenanteile erhielt. Wenn nun aber die Sitzzahl nur in diesen drei Bezirken durch Überhang- und Ausgleichsmandate deutlich angehoben wird, in Tübingen aber nicht oder nur minimal, dann sinkt auf Landesebene insgesamt das Gewicht der Stimmen aus Tübingen. Dies schadet der CDU – und es schadet auch den Grünen, die zuletzt ebenfalls in Tübingen besonders stark waren, während es der SPD nützt, denn die SPD hatte in Tübingen 2006 ihr mit Abstand schlechtestes Bezirksergebnis. Das Ausmaß dieses Effekts ist schwer abzuschätzen, dürfte aber den aus CDU-Sicht zu erwartenden Vorteil durch die Ausgleichsmandatsregelung auf durchschnittlich etwa einen Sitz reduzieren, falls sie in Tübingen erneut ihr deutlich bestes Ergebnis erzielt.

Mehrheitsumkehr auch zulasten von CDU/FDP und zwischen Grünen und SPD denkbar

Ob und inwieweit es also tatsächlich eine Verzerrung für die CDU geben wird, hängt sehr stark von der jeweiligen Stimmen- und Direktmandatsverteilung in den Regierungsbezirken ab. Da die Umfragen gravierende Verschiebungen der Stimmenanteile der Parteien gegenüber der vorherigen Wahl erwarten lassen, aber keine Umfragedaten auf Regierungsbezirksebene vorliegen, ist es unmöglich vorherzusagen, wie sich der bezirksweise Verhältnisausgleich auswirken wird. Die Spannweite der denkbaren Konstellationen ist dabei so groß, dass auch eine Mehrheitsumkehr zulasten von CDU/FDP im Bereich des Möglichen liegt, wenngleich sie eher unwahrscheinlich ist. Sollten sich die jüngsten Umfragen bewahrheiten, die einen Vorsprung von SPD und Grünen in Höhe von fünf Prozentpunkten sehen, besteht jedenfalls keine realistische Chance für Schwarz-Gelb, diesen Rückstand durch wahlarithmetisches Glück wettzumachen. Eher wahrscheinlich wäre dann angesichts der zu erwartenden Benachteiligung des Regierungsbezirks Tübingens sowie der Rundungsschwankungen wohl ein ganz anderes Szenario: Dass nämlich die Grünen zwar knapp mehr Stimmen als die SPD erhalten, die SPD am Ende aber nach Sitzen vorne liegt. Die Frage, welche der beiden Parteien unter diesen Bedingungen auf ihren Anspruch auf das Amt des Ministerpräsidenten verzichten würde, könnte sich als eine schwere Hypothek für etwaige Koalitionsverhandlungen erweisen.

Regelungslücke bei Ausgleichsmandaten

Probleme könnte auch die unklare Formulierung der Ausgleichsmandateverteilung in § 2 Absatz 4 Landtagswahlgesetz bereiten. Wenn man, nach einer proportionalen Verteilung im Land, als neuen Maßstab den Proporz im Bezirk betrachtet, so wird man diesen Bezirksproporz oft nur annähernd erreicht vorfinden. Nicht nur die überhängende Partei, auch die anderen Parteien können von ihm abweichen. So kann auch die kleinste Partei durch „Rundungsglück“ bei der Unterverteilung mehr Sitze im Bezirk erhalten, als ihr im Bezirk proportional zustünde (was durch Rundungspech in anderen Bezirken ausgeglichen wird). Was ist zu tun, wenn in einem Bezirk beispielsweise ein einzelnes Überhangmandat angefallen ist, die Berechnung des Bezirksproporzes unter Berücksichtigung des Überhangmandats aber für einzelne Parteien eine geringere Sitzzahl ergibt, als sie bei der parteininternen Unterverteilung in diesem Bezirk erhalten hatte.

Um auch mit diesen Parteien einen Proporz im Regierungsbezirk herzustellen, sind zwei Verfahren denkbar:

  1. Diese Parteien erhalten weniger Sitze als vorher durch die Unterverteilung (negative Ausgleichsmandate).
  2. Auch diese Sitze werden ausgeglichen (Ausgleich von Aufrundungsmandaten).

Tatsächlich ist diese Konstellation bei den Landtagswahlen 1984 und 1988 eingetreten. In beiden Fällen hat man sich für eine dritte Möglichkeit entschieden: Es wurde kein vollständiger Ausgleich im Bezirk hergestellt, die Aufrundungsmandate wurden weder ausgeglichen noch gestrichen.

Eine vierte Möglichkeit wäre, „die Zahl der auf den Regierungsbezirk insgesamt entfallenden Sitze“ in § 2 Absatz 4 Landtagswahlgesetz als nicht definiert anzusehen und zu ignorieren und den Ausgleich stattdessen im Land herzustellen. Dieses Verfahren wäre auch einem Ausgleich in den Bezirken vorzuziehen, führte zu einem größeren Porporz im Lande und wäre weniger anfällig für negative Stimmgewichte.

Eine fünfte Möglichkeit wurde vom Politikwissenschaftler Prof. Joachim Behnke (Zeppelin University Friedrichshafen) vorgeschlagen. Demnach sollen mehr Ausgleichsmandate in den Bezirken verteilt werden, um dem Vorteil des letzten Sitzes für überhängende Parteien zu beseitigen (s. u.).

Die systematischen Ungerechtigkeiten, aber auch die Regelungslücken können zu Wahlprüfungsverfahren nach der Landtagswahl führen. Allerdings hat der Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg die Messlatte für eine Verfassungswidrigkeit sehr hoch angesetzt: Das Wahlverfahren müsse für alle Wahlergebnisse und jeweils jede Partei eindeutig schlechtere Ergebnisse liefern (siehe Meldung vom 9. August 2007).

Wahlrechtsänderungen vor dieser Wahl

Für diese Wahl gibt es zwei Neuerungen im Wahlgesetz:

  1. Das Divisorverfahren mit Abrundung (d’Hondt) wurde durch das Divisorverfahren mit Standardrundung (Sainte-Laguë) ersetzt. Der vierfache d’Hondtsche Rundungsvorteil der überhängenden Partei wurde somit entschärft (als beispielhafter Vergleich das Ergebnis der Landtagswahl 2006 berechnet mit Sainte-Laguë). Die Gefahr, dass die im vorherigen Absatz beschriebene Regelungslücke auftritt, ist wesentlich geringer geworden.
  2. „Zweitmandate“, also die Sitze an unterlegene Wahlkreiskandidaten – es gibt ja keine Listen – werden nun entsprechend der prozentualen Stimmenanteile und nicht mehr der absoluten Stimmenzahlen im Wahlkreis verteilt, was Chancengleichheit der Wahlbewerber in den unterschiedlich großen Wahlkreisen sichern soll.

Gutachten für die grüne Landtagsfraktion

Im Auftrag der Landtagsfraktion der Grünen in Baden-Württemberg hat Prof. Joachim Behnke von der Zeppelin University in Friedrichshafen eine Simulationsrechnung für die Landtagswahl in Baden-Württemberg auf Basis der Umfragen Ende Januar/Anfang Februar durchgeführt und dabei versucht, den kumulierten Vorteil des letzten Sitzes zu quantifizieren. Die Ergebnisse wurden in der Presse allerdings etwas überinterpretiert.

Insgesamt wurden 4.000 Wahlergebnisse simuliert, die in einem schmalen Bereich (Standardabweichung dieser Umfragen) um diesen Umfragewert liegen. „Wahrscheinlichkeit“ bezieht sich im Gutachten dann auch auf diese Ergebnisverteilung. Der Autor warnt selber (so in Fußnote 4) vor einer Verwendung als Wahrscheinlichkeit im herkömmlichen Sinne.

Die simulierten Ergebnisse ergeben im Durchschnitt einen Vorteil von 1,4 Sitzen für Schwarz-Gelb (der Vorteil von 1,4 Sitzen geht nur in eine Richtung, die einen erhalten 1,4 Sitze mehr, die anderen aber nichts weniger). Der Median (Zentralwert) und das Maximum betragen einen Sitz Vorteil für Schwarz-Gelb, wobei die Werte selbst zwischen einem Nachteil (!) von fünf Sitzen und einem Vorteil von sieben Sitzen stark schwanken. Desweiteren gibt es in 4 Prozent der Fälle eine Mehrheitsumkehr; CDU und FDP erhalten dann eine Mehrheit, die sie ohne Überhang- und Ausgleichsmandate nicht hätten.

Als Lösung schlägt Behnke eine Modifizierung des Berechnungsverfahren vor (s. o.), bei dem etwas mehr Ausgleichsmandate verteilt werden. Es soll der Quotient Stimmen/Sitzzahl der überhängenden Partei als neuer Zuteilungsdivisor benutzt werden, um den statistischen Vorteil des letzten Sitz zu beseitigen. Das Verfahren würde zu mehr Ausgleichsmandaten führen und wäre etwas anfälliger für negative Stimmgewichte. Die Landeswahlleiterin hat dieser Berechnung von Ausgleichsmandaten inzwischen eine Absage erteilt.

Der durchschnittliche Vorteil von 1,4 Sitzen dürfte mit nur geringen Abstrichen allgemeiner gelten, die Aussagen zur Mehrheitsumkehr hängen dagegen stark von den ausgewählten Wahlergebnissen ab. Die Wahrscheinlichkeit einer Mehrheitsumkehr durch Überhangmandate dürfte damit deutlich unter den angegebenen 4 Prozent liegen. Außerhalb der Simulationsrechnung scheinen die Zahlen eine gewisse Eigendynamik zu bekommen. Aus dem einen (oder 1,4) Sitz(en) werden rund zwei, dann bis zu vier.

Leider fehlen in der Studie Aussagen zu Mehrheitswechseln in die andere Richtung (also wenn sich eine Stimmenmehrheit von CDU und FDP nicht in einer Sitzmehrheit abbildet) und zu Mehrheitswechseln allein aufgrund kumulierter Rundungszufälle, ganz ohne Überhangmandate. Auch auf den Einfluss der Fünfprozenthürde auf die Simulation wird nicht näher eingegangen. Schließlich liegt die FDP (in der Simulation) nur knapp über, die Linke nur knapp unter 5 Prozent.

Diskussion über das Wahlrecht notwendig

Mehrheitswechsel allein durch Rundungsfehler sind in Mehrparteiensystemen nicht zu vermeiden, und mit der Fünfprozenthürde hat man viel stärker mehrheitsändernde Eingriffe ins Wahlsystem. Gleichwohl gehört gerade in Baden-Württemberg das Wahlrecht nach der Wahl auf den Prüfstand, und zwar über die Beseitigung von Regelungslücken hinaus. Denn durch die unsinnige Regelung des bezirkweisen Ausgleichs gewinnt die Sitzverteilung eine gravierende und unkalkulierbare Unschärfe, die völlig unnötig ist.

Frühere Meldungen zum Thema


von Martin Fehndrich und Wilko Zicht (27.03.2011)