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Tipps und Tricks zur Bundestagswahl 2009

26.02.2009

Grüner Gesetzentwurf zur Beseitigung des negativen Stimmgewichts

Gut sieben Monate nachdem das Bundesverfassungsgericht wegen des negativen Stimmgewichts einen wesentlichen Teil des Bundestagswahlrechts für verfassungswidrig erklärte, hat die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen am 11. Februar 2009 als erste einen Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes eingebracht (BT-Drs. 16/11885). Inhaltlich folgt der Entwurf dem vom 24. September 1996 (BT-Drs. 13/5575) und unserem Vorschlag, allerdings mit Neuformulierung der betroffenen Paragraphen.

Auch Lammert, Müntefering und Schäuble für eine Änderung

Neben den GRÜNEN sind auch der Präsident des Deutschen Bundestages, Norbert Lammert (CDU), und SPD-Chef Franz Müntefering gegen eine erneute Anwendung des verfassungswidrigen Wahlgesetzes. Bundestagspräsident Lammert drängt auf eine rasche Korrektur: „Es ist unbedingt erwünscht und bei gutem Willen auch möglich, diese Regelung in unserem Wahlrecht so rechtzeitig zu korrigieren, dass sie schon bei den nächsten Bundestagswahlen Anwendung finden könnte“. Der SPD-Vorsitzende Müntefering erklärte gegenüber der Frankfurter Rundschau: „Wir können nicht einfach nach einem erklärterweise verfassungswidrigen System wählen“. Ähnlich äußerte sich der Bundesgeschäftsführer der LINKEN, Dietmar Bartsch: „Es ist absurd und befördert nur Parteienverdrossenheit, wenn die nächste Bundestagswahl nach eigentlich verfassungswidrigen Regeln stattfinden soll“. Und laut WELT zeigt auch Innenminister Wolfgang Schäuble Sympathien für eine rasche Änderung des Wahlrechts.

Ohne Gesetzesänderung droht schwerer Vertrauensverlust für die Demokratie

Gefährlich ist dabei nicht die an sich schon bedenkliche Zahl an Überhangmandaten, wie sie bei den letzten Bundestagswahlen anfielen. Schwerwiegender ist, dass viele Wahlberechtigte im September vor das Dilemma gestellt werden, ihrer Partei mit ihrem Stimmkreuz zu schaden oder ihr die schädliche Stimme nicht zu geben (siehe: „Bei Bundestagswahl 2009 droht verkehrte Wahl“).

Kein Wähler, der die Auswirkungen des verfassungswidrigen Wahlrechts verstanden hat und seiner Partei nicht schaden will, wird in Ländern mit wahrscheinlichen Überhangmandaten für die potenziell überhängende Partei stimmen. Das wird den Effekt verstärken und zu deutlich mehr Überhangmandaten führen, als derzeit ohne Berücksichtigung dieser Kenntnis erwartet werden.

Das Potenzial an Überhangmandaten durch so ein Stimmensplitting ist die Anzahl der Direktmandate für überhängende Landeslisten. Zur Bundestagswahl 2005 waren dies 47 CDU- und 42 SPD-Sitze (vgl. 6,5 Mio. betroffene Wähler 2005.) Zur Bundestagswahl 2009 kann dieses Potenzial – je nachdem, welche Bundesländer betroffen sind – bei bis zu 100 Sitzen liegen. Und wenn die Überhangmandate vor allem auf eine Partei entfallen, ist die Umkehr einer Stimmenminderheit in eine Mehrheit bei der Verteilung der Sitze im Bundestag möglich – gerade weil eine Partei nicht von ihren Wählern gewählt wird. Dies würde zu einem erheblichen Verlust des Vertrauens in unsere Demokratie führen.

Frist des Bundesverfassungsgerichts kein Freibrief

Politiker, die sich ungeachtet dessen noch immer gegen eine rasche Änderung des Bundeswahlgesetzes aussprechen, verweisen dabei auf die Frist bis zum 30. Juni 2011, welche das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber eingeräumt hat. Dabei orientierte sich das Gericht hier allein am Prinzip der richterlichen Selbstbeschränkung, denn eine kürzere Frist hätten den im Wahlrecht theoretisch möglichen, weiten Handlungsspielraum des Gesetzgebers eingeschränkt. Umgekehrt ist nun der 16. Deutsche Bundestag nicht aus seiner Verantwortung entlassen, Änderungen, die ohne große Eingriffe in das Wahlsystem möglich sind, auch noch vor der Bundestagswahl umzusetzen.

Änderung ohne Einfluss auf Kandidatenaufstellungen

Der nun vorgelegte Gesetzentwurf der GRÜNEN ändert – bis auf das negative Stimmgewicht – weder die prägenden Elemente des Wahlrechts zum Bundestag (wie personalisierte Verhältniswahl, Zweistimmenwahlrecht, Wahlkreise, Wahlkreiszahl und -einteilung, Wahl nach Landeslisten, Anrechnungsgrundsatz usw.) noch beeinflusst er die laufenden Kandidatenaufstellungen für die Landeslisten oder in den Wahlkreisen, die grundlegenden Änderungen am Wahlsystem zur nächsten Bundestagswahl inzwischen entgegenstehen. Die Verrechnung zwischen den verbundenen Landeslisten einer Partei wurde bereits Mitte des 90er Jahre als repräsentanzförderndes Kompensationsmodell I vom Bundesministerium des Innern vorgeschlagen und schon lange unter Fachleuten diskutiert.

Das im Entwurf beschriebene Verfahren stellt die vermutlich kleinste durchsetzbare Änderung dar. Es führt im „Normfall“ (kein Anfall von Überhangmandaten) zu derselben Sitzverteilung wie bisher und liegt nur knapp über dem theoretisch erforderlichen Mindesteingriff zur Beseitigung negativer Stimmgewichte. Da praktisch keine Überhangmandate mehr auftreten, besteht auch kein Anreiz zum strategischen Stimmensplitting.

Verantwortungsbewusstsein aller Fraktionen gefragt

Am Donnerstag, den 5. März 2009, geht der Gesetzentwurf in die erste Lesung. Die Tagesordnung sieht eine Aussprache von 30 Minuten im Plenum vor. Die Debatte wird zeigen, wer „guten Willens“ ist und ob es wirklich jemanden gibt, der wegen der momentanen Aussicht auf Vorteile durch die verfassungswidrige Regelung eine Schädigung des Ansehens unserer Demokratie in Kauf nimmt.


von Martin Fehndrich (26.02.2009)