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01.04.2007
Das zur Bundestagswahl 2002 recht gut bestätigte Prognoseverfahren von Jakob M. Mierscheid (Mierscheid-Gesetz1) hat bei der Bundestagwahl 2005 nach den nun vorliegenden Rohstahlwerten für 2005 und 2006 zu keinem brauchbaren Ergebnis geführt. Mehrere Hypothesen sollen es nun retten.
Das legendäre Mierscheid-Gesetz lautet:
Der Stimmenanteil der SPD bei Bundestagswahlen richtet sich nach dem Index der deutschen Rohstahlproduktion in den alten Ländern gemessen in Mio. Tonnen.
Allerdings ist auch das einfachste Gesetz nicht ohne Ausnahme2. Im September 2005 war eine vorgezogene Bundestagswahl. Das eigentliche Wahljahr war 2006. Aus diesem Grund muss der Stahlwert für diese Wahl aus den Ergebnissen der Jahre 2005 (38,3) und 2006 (40,3) gemittelt werden. Dies gilt auch für die Wahlen 1972 und 1983.
Der Mierscheid-Wert für die Bundestagwahl 2005 ist damit 39,3. Die SPD erreichte statt des erwarteten Ergebnisses nur 34,2 Prozent. Dies entspricht einer Differenz von über 5 %. Ein Widerspruch?
Mierscheid selbst versucht mit verschiedenen Hypothesen das Gesetz zu retten, die den Widerspruch „erklären“ sollen. Dazu stellt er in einem Brief zum Mierscheid-Gesetz vom 8. Februar 2007 drei Hypothesen auf3. Es bleibt aber unklar, welche der drei Hypothesen für ein erweitertes Mierscheid-Gesetz genutzt werden sollen, so dass die Prognosefähigkeit des Gesetzes verloren ist.
Hypothese I berücksichtigt nur die Rohstahlmenge bis zum Zeitpunkt der vorgezogenen Bundestagswahl (vgl. die vorläufige Hypothese vom 5. Dezember 2005) und ersetzt damit die bisherige Sonderregel für vorgezogene Bundestagswahlen. Überträgt man die neue Regel (sinngemäß ergäbe dies: bei vorgezogenen Bundestagswahlen schneidet die SPD besonders schlecht ab) auf die bisherigen vorgezogenen Wahlen, muss man Hypothese I verwerfen, denn an der Stelle muss man daran erinnern, dass die Bundestagswahl 1983 im Frühjahr stattgefunden hat und die SPD der Rohstahlmenge entsprechend deutlich unter 20 % gelegen haben müsste.
In Hypothese II wird die Stahlproduktion mit der Beschäftigtenzahl in der Stahlindustrie gewichtet. Der Rückgang der Beschäftigtenzahlen von 2002 bis 2005 um rund 10 % soll den geringeren Wert erklären. Aber auch diese Hypothese müsste man auf alle vorherigen Ergebnisse übertragen. Der Rückgang der Beschäftigtenzahlen in der Stahlindustrie ist kein Effekt, der sich auf die vergangene Legislaturperiode beschränkt, sondern ein Prozess seit spätestens den 70ern. Auch Hypothese II ist damit zu verwerfen. Auch Mierscheid sieht Hypothese II nicht für die vorangegangenen Wahlen nutzbar. Das hänge damit zusammen, dass Prozesse wie der Beschäftigungsrückgang unabhängig von der Produktionsleistung zwar mehr oder weniger kontinuierlich stattfänden, im öffentlichen Bewusstsein und damit in ihrem Einfluss auf Wahlentscheidungen aber nicht sofort, sondern erst nach einiger Zeit und mit Verzögerung wirksam würden. Über diese Frage wird weiter nachgedacht, denn gerade die Kontinuität des Beschäftigungsrückgang sollte den Einfluss von Zeitverzögerungen beseitigen.
In Hypothese III wird ein Teil des Wahlergebnisses der Linke.PDS in den vorhergesagten SPD Stimmenanteil einbezogen. Eine ähnliche Anpassung verfolgten erfolgreich Norpoth/Gschwend (Schwarz-Gelb verpasst erneut den Sieg ).
Der Ansatz hat was. Und er ist systematisch etwas sauberer als der fragwürdige Adhoc-Ansatz von Norpoth/Gschwend4. Er lässt sich ohne Belastung des Modells auf vorherige Wahlen zurückrechnen. Aber erlaubt er sinnvolle Voraussagen? Denn das ist es, woran sich ein Prognoseverfahren messen lassen muss. An der Prognosefähigkeit, nicht an einer Erklärbarkeit von Abweichungen. Norpoth/Gschwend ist dies ungeachtet methodischer Kritik5 zu den Bundestagswahlen 2002 und 2005 gelungen.
Am konkreten Vorhersagemodell arbeitet Mierscheid noch. Ich bin noch am Grübeln. Aber die Wahl ist ja erst 2009.
Einen anderen Ansatz verfolgen J. Mierscheid (Deutscher Bundestag) und W. Walla (Stat. Landesamt Baden-Württemberg) in einem Artikel Das Mierscheid-Walla Gesetz im Statistischen Monatsheft Baden-Württemberg 3/2006, den man am 1. April 2006 lesen konnte6.
Das allgemeine Mierschied-Walla-Gesetz ergibt sich dort nach leichter und unmittelbarer Ableitung als
y(SPD) = + m x + a und
y(CDU) = − m x + b
Eine konkretes Vorhersagemodell ergibt sich hier nicht, denn die Bedeutung der Größe x und die Werte für m, a, b bleiben unbekannt. Dies ist aber auch nicht die Aufgabe eine statistischen Landesamtes, sondern muss Aufgabe der Forschung sein. Interessant ist aber der Ansatz, der für die CDU eine negative Steigung gleichen Betrages m vorgibt. Bedeutet dies doch im Endeffekt, dass der Stimmenanteil von CDU und SPD konstant a + b ist. Also irgendetwas ziemlich genau ungefähr zwischen 60 und 90 %.
Allerdings muss hier der grundsätzliche Ansatz infrage gestellt werden, wie sich das Item Stahlproduktion ersetzen lässt, wenn nur noch in Kehl (Baden-Württemberg) Stahl produziert werde.
Die Vorstellung, dass an renommierten und hochmodernen Stahlstandorten wie Georgsmarienhütte (Niedersachsen), wo seit 1856 Stahl produziert wird, oder Duisburg (Nordrhein-Westfalen) kein Stahl mehr produziert wird, erscheint so abwegig, dass man für solche Fälle durchaus die Prognose des originalen Mierscheid-Gesetz glauben könnte. Die SPD verfehlte die 5 %-Hürde.
Auch die Randnotiz, im Osten würde kein Stahl mehr produziert, stellt nicht die tatsächliche wirtschaftliche Lage in Deutschland dar. Vielmehr besteht Forschungsbedarf zur Frage, warum die ostdeutsche Rohstahlerzeugung keinen Einfluss auf das SPD-Ergebnis haben soll.
Einen weiteren Einfluss auf das SPD-Ergebnis (und wohl auch die Gültigkeit des Mierscheid-Gesetzes) sieht Mierscheid in der Kandidatur Oskar Lafontaines. Neben den Wahlen und Abweichungen 1990 und 2005 springt hier die Bundestagswahl 1998 ins Auge. Hier erhielt die SPD deutlich mehr Stimmen, als nach der Rohstahlmenge zu erwarten wäre. In der dann SPD geführten Regierung wurde Lafontaine Finanzminister mit negativem Einfluss auf die Deutsche Stahlproduktion der zweiten Jahreshälfte 1998.
Alles Data-Mining, Datenanpassung, Regressions- und Korrelationsanalysen reicht beim Aufbau eines Wahlprognosesystems nicht aus. Es gilt vielmehr die Empfehlung Mierscheids:
Alle Wahlforscher, Prognostiker und Propheten sollten ihre Computer und Rechenmaschinen zerschlagen, in sich gehen und nachdenken.
1 Vorwärts vom 14.07.1983
2 dito.
3 J.M. Mierscheid, Brief vom 02.08.2007
4 T. Gschwend, H. Norpoth Prognosemodell auf dem Prüfstand, Politische Vierteljahresschrift, 46 (2005) S. 682 – Die Autoren ändern kurz vor der Wahl ihre Zauberformel um einen Korrekturfaktor
5 M. Klein, Politische Vierteljahresschrift, 46 (2005) S. 689
6 J.M. Mierscheid, W.Walla Das Mierscheid Walla-Gesetz, Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 3/2006, S. 34.