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11.02.2004

Trotz Bevölkerungszuwachs:
Schleswig-Holstein soll Wahlkreis abgeben

Die Wahlkreiskommission hat ihren Bericht (Drucksache 15/2375) vorgelegt. Falls der Bundestag ihrer Empfehlung folgt, werden Thüringen und Schleswig-Holstein zur nächsten Bundestagswahl je einen Wahlkreis an Niedersachsen und Bayern abgeben müssen. Pikant daran ist vor allem, dass Schleswig-Holstein eines der am stärksten wachsenden Bundesländer ist. Insbesondere ist es schneller als Niedersachsen gewachsen (mehr dazu weiter unten).

Die wichtigsten Änderungen

Für Thüringen schlägt die Kommission vor, den Wahlkreis 195 (Jena – Weimar – Weimarer Land), der selber nur unwesentlich zu klein ist, aufzulösen und an die umliegenden Wahlkreise 196, 192 und 194 zu verteilen. In Schleswig-Holstein würde der Wahlkreis 9 (Ostholstein) zum größten Teil dem Wahlkreis 6 zugeschlagen und damit die ursprünglichen Wahlkreise des Wahlkreisneueinteilungsgesetzes von 1998 wiederhergestellt. Schleswig-Holstein hat den Wahlkreis, den es nun wieder verlieren soll, erst nachträglich aufgrund eines ergänzenden Berichts der letzten Wahlkreiskommission erhalten (allerdings in anderer Form als damals vorgeschlagen).

In Niedersachsen würde aus dem Landkreis Harburg, der bisher größtenteils zum Wahlkreis 36 gehört, ein eigener Wahlkreis. In Bayern würde ein Wahlkreis "Erding – Ebersberg" aus den beiden gleichnamigen Landkreisen gebildet und damit vor allem der Wahlkreis 215 entlastet.

In diesen 4 Bundesländern sind auch weitere Wahlkreise von Folgeänderungen sowie sonstigen Anpassungen betroffen. Außerdem empfiehlt die Kommission Korrekturen an Wahlkreisen in den Ländern Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Hessen und Baden-Württemberg. Insgesamt würden 52 der 299 Wahlkreise verändert.

Gründe für die Umverteilung

Das Bundeswahlgesetz schreibt seit der Bundestagswahl 2002 vor, dass die Zahl der Wahlkreise in den einzelnen Ländern deren Bevölkerungsanteil (ohne Ausländer) so weit wie möglich entsprechen muss (zuvor war das nur eine Soll-Bestimmung). Diese Bestimmung dient neben der allgemeinen Gleichheit der Wahl auch der Vermeidung von Überhangmandaten, die u.a. von einer zu hohen Zahl an Wahlkreisen in einem Land verursacht werden können.

Die einzelnen Wahlkreise dürfen seither nur noch um maximal 25 % (zuvor 33 1/3 %) von der Durchschnittsgröße abweichen und sollen auch eine Grenze von 15 % (zuvor 25 %) nur in begründeten Einzelfällen überschreiten. Zu kleine Wahlkreise können ebenfalls Überhangmandate begünstigen.

Nach den Bevölkerungszahlen von Ende 2002 haben 57 Wahlkreise mehr als 15 % Abweichung; einige davon drohen die 25 % demnächst zu überschreiten. Bei 31 Wahlkreisen hält die Kommission die Abweichung für gerechtfertigt, 8 Wahlkreise würden trotz Verbesserungen noch jenseits der Grenze bleiben (wovon 2 die Richtung der Abweichung wechseln), 3 weitere würden erst durch den Neuzuschnitt auffällig.

Der kleinste Wahlkreis wäre künftig der Wahlkreis 231 (Rottal-Inn) mit -20,6 % Abweichung. Als größter hätte der Wahlkreis 200 (Neuwied) mit +20,5 % Abweichung immer noch um gut die Hälfte mehr Einwohner.

Bewertung der Vorschläge

Die Kommission ist der Auffassung, dass die Aufteilung der Wahlkreise auf die Länder strikt nach der Quotenmethode mit Ausgleich nach den größten Restwerten (Hare/Niemeyer) erfolgen müsste. Damit will sie sich vor allem von der Kommission der letzten Wahlperiode abgrenzen, die einen kleinen Spielraum zugunsten der Wahlkreiskontinuität gesehen hat, sofern nach Hare/Niemeyer Reste oberhalb von 0,5 abzurunden wären. Eine mögliche Verwendung anderer Verteilmethoden diskutiert sie nicht.

Dabei gäbe es ganz gewichtige Gründe, die für eine Berechnung gemäß der Divisormethode mit Standardrundung (Sainte-Laguë) sprechen würden. Zum einen stellt nur diese sicher, dass auf jeden Bürger ein möglichst gleicher Anteil der Wahlkreise trifft, die in seinem jeweiligen Land vergeben werden, was eine Voraussetzung dafür ist, bundesweit möglichst gleich große Wahlkreise zu schneiden.1

Zum anderen ist sie frei von Paradoxien, die in der längerfristigen Entwicklung der Wahlkreise sehr verwirrte Ergebnisse bringen. Zwar ist der Wahlkreiskommission zuzustimmen, dass das Bundeswahlgesetz bei der Verteilung der Wahlkreise auf die Länder der Wahlkreiskontinuität kein besonderes Gewicht gibt, aber zumindest die Forderung, dass ein Land, das stärker wächst als ein anderes, niemals einen Wahlkreis an dieses abgeben muss, erscheint bedenkenswert.

Schleswig-Holstein

Seit der letzten Einteilung, die auf Grundlage der Bevölkerungszahlen vom 30. September 1999 erfolgt ist, ist Schleswig-Holstein nicht nur absolut, sondern auch im Verhältnis zum Bundesschnitt gewachsen. Sein rechnerischer Anspruch auf Wahlkreise ist seither von 10,489 auf 10,599 gestiegen.

Das allein ist noch kein ausreichender Grund, den Bestand seines 11. Wahlkreises zu rechtfertigen, aber Schleswig-Holstein ist mit insgesamt 1,6 % auch stärker als Niedersachsen gewachsen, wo es nur 1,2 % waren. Trotzdem verliert nach Hare/Niemeyer Schleswig-Holstein einen Wahlkreis, während Niedersachsen einen zusätzlichen erhält. Hier tritt also das Population-Paradoxon auf.

Die Entwicklung der relevanten Zahlen für die beteiligten Länder:

Land Datum 30.06.1999 30.09.1999 31.12.1999 31.12.2000 31.12.2001 31.12.2002 30.06.2003
Schleswig-
Holstein
Bevölkerung 2619606262313726256542637978265087326630812664416
Wachstum +0,096 %+0,566 %+1,057 %+1,523 %+1,574 %
Anspruch 10,48110,48910,49210,51810,55110,59010,599
Hare/Niemeyer 10111111111010
Sainte-Laguë 10111111111111
Nieder-
sachsen
Bevölkerung 7347696735702973709587400116742361974424217445685
Wachstum +0,189 %+0,586 %+0,905 %+1,161 %+1,205 %
Anspruch 29,39929,41929,45529,50529,54729,59629,619
Hare/Niemeyer 29292929303030
Sainte-Laguë 29292929303030
Thüringen Bevölkerung 2415919241085824074092388604236636623454082335991
Wachstum -0,143 %-0,923 %-1,845 %-2,715 %-3,105 %
Anspruch 9,6669,6409,6209,5249,4199,3279,292
Hare/Niemeyer 10101010999
Sainte-Laguë 10101010999
Bayern Bevölkerung 10995854110164271103171011097959111668331121334111217919
Wachstum +0,139 %+0,740 %+1,365 %+1,787 %+1,829 %
Anspruch 43,99644,05244,08444,24944,44644,59244,624
Hare/Niemeyer 44444444444545
Sainte-Laguë 44444444444444

Wenn man die Entwicklung unter der Annahme fortschreibt, dass das Bevölkerungswachstum in jedem Land konstant wie in der Zeit seit der letzten Einteilung bleibt, würde Schleswig-Holstein nach Hare/Niemeyer im Mai 2004 erneut einen 11. Wahlkreis erhalten, den dann Sachsen verlieren würde.

Dass Bayern bei Sainte-Laguë weiter nur 44 Wahlkreise bekommen würde, erklärt sich so: Bayern hat dann 3,922 millionstel Wahlkreise pro Bürger, während es in Schleswig-Holstein 4,128 wären, eine Differenz von 0,206. Bei der Verteilung nach Hare/Niemeyer wären es 4,011 gegenüber 3,753, eine Differenz von 0,258. Das Ungleichgewicht ist also geringer, wenn Schleswig-Holstein den umstrittenen Wahlkreis erhält.

Tatsächlich erschwert die von der Kommission vorgeschlagene Verteilung auch die Bildung von Wahlkreisen, die möglichst der Sollgröße entsprechen: In Schleswig-Holstein ist bereits ein durchschnittlicher Wahlkreis um 5,9 % zu groß. Das hat zur Folge, dass sich die Kommission gezwungen sieht, mehr als zwei Drittel der dortigen Wahlkreise zu verändern, und trotzdem ein bisher passender (Wahlkreis 10) künftig 17,4 % zu groß sein soll. Wenn dagegen der letzte Wahlkreis nach Schleswig-Holstein geht, kann dort die durchschnittliche Abweichung auf 3,7 % reduziert werden, während es in Bayern auch dann nur 1,3 % wären.

Vermeidung von Überhangmandaten

Wenn man die vorgeschlagene Verteilung der Wahlkreise ganz pragmatisch daraufhin untersucht, ob sie geeignet ist, Überhangmandate zu verhindern, ist sie sicher eine Verbesserung. Mit Thüringen und Schleswig-Holstein verlieren zwei stark überhanggefährdete Länder einen Wahlkreis. In Thüringen hat es bisher immer ein oder gar mehrere Überhangmandate gegeben. In Schleswig-Holstein war das zwar schon länger nicht mehr der Fall, aber 2002 hat die SPD nur ganz knapp den Wahlkreis 2 verloren und damit ein Überhangmandat verpasst. Mit 50 000 Zweitstimmen weniger hätte sie ein weiteres Überhangmandat bekommen. In Niedersachsen und Bayern hat es dagegen noch nie ein Überhangmandat gegeben, und das ist auch für die Zukunft eher unwahrscheinlich.

Allerdings lässt das Bundeswahlgesetz für derartige Überlegungen kaum Raum, und sie setzen auch voraus, dass sich das regionale Wahlverhalten nicht wesentlich verändert. Wollte man versuchen, Überhangmandate durch gezielte Wahlkreiseinteilung zu verhindern, müsste man ein Gerrymandering ganz besonderer Art betreiben, das versucht, für jede überhanggefährdete Partei ein paar Wahlkreise möglichst uneinnehmbar zu machen.

In diesem Sinn ist die vorgeschlagene Wahlkreiseinteilung in Thüringen ungünstig. Aufgelöst wird nämlich mit dem Wahlkreis 195 ausgerechnet der mit 18,1 Prozentpunkten Vorsprung bei der Wahl 2002 sicherste Wahlkreis der SPD, während sie in den erweiterten Wahlkreisen 194 und 196 nur noch jeweils 15,2 Punkte Vorsprung gehabt hätte. Im Gegenzug würde sich im Wahlkreis 190 der Vorsprung der CDU von 6,7 auf 3,0 Prozentpunkte verringern.

Reaktionen der Länder

Die Landesregierung von Schleswig-Holstein lehnt den Verlust des Wahlkreises verständlicherweise ab, argumentiert dabei aber mit einem Ermessensspielraum zugunsten von Stabilität und Kontinuität, den sie im Bundeswahlgesetz zu sehen glaubt.

Die Thüringer Landesregierung fordert im Prinzip eine willkürliche Wahlkreisvergabe nach politischen Kriterien, wenn sie beklagt, dass sich die Vorschläge ausschließlich an formalen Kriterien orientieren. Nachdem die völlig zweifellos gegen Thüringen sprechen, konzentriert sie sich darauf, den drohenden Niedergang der Gesamtrepräsentanz der jungen Bundesländer zu beklagen. Offenbar betrachtet sie Überhangmandate als eine Art gerechten Ausgleich dafür, dass die Bevölkerung im Osten vor allem durch die niedrigere Wahlbeteiligung und dadurch, dass Wähler von an der Sperrklausel gescheiterten Parteien wie Nichtwähler behandelt werden, im Bundestag unterrepräsentiert ist.

Generell zeigen sich die von Veränderungen betroffenen Bundesländer eher unkooperativ und wollen die bestehenden Wahlkreisgrenzen selten antasten. Die Bayrische Staatsregierung akzeptiert zwar den zusätzlichen Wahlkreis, lehnt aber an anderer Stelle schon die bloße Prüfung einer Änderung ab. Auch Hessen will an seinen Wahlkreisen keine Änderungen zulassen. Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen akzeptieren nur einen Teil der vorgeschlagenen Veränderungen.

Den Änderungen zugestimmt haben dagegen Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen. Zusätzliche Veränderungen hat kein Land angeregt, obwohl die Vorschläge der Kommission ja nur den dringendsten Handlungsbedarf abdecken.

Längerfristige Entwicklung

Die folgende Grafik zeigt die längerfristige Entwicklung der Wahlkreisansprüche der Länder bezüglich der gegenwärtig gültigen Verteilung:

[Grafik: Wahlkreisansprüche der Länder gegenüber der Verteilung von 2002]

Die Werte vor 1999 dienen nur dazu, die Trends aufzuzeigen, und haben keinen Bezug zur damals gültigen Einteilung, weil ja die Gesamtzahl der Wahlkreise früher größer war.

Wie man sieht, verändern sich die Ansprüche mancher Länder ziemlich schnell. Falls sich die Entwicklung der letzten Jahre fortsetzt, werden bis zur Bundestagswahl 2006 Sachsen und Sachsen-Anhalt keinen rechnerischen Anspruch auf ihren jeweils letzten Wahlkreis mehr haben. Im Gegenzug festigt sich der Anspruch von Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern, die gegenwärtig um die letzten beiden Wahlkreise konkurrieren. Zudem erwächst Baden-Württemberg Anspruch auf einen weiteren Wahlkreis. Längerfristig scheint auch ein Transfer von Mecklenburg-Vorpommern nach Hessen wahrscheinlich zu sein.

Angesichts der rasanten Entwicklung wär es erwägenswert, einen klaren Stichtag einzuführen, nach dem sich die Verteilung für die jeweils folgende Wahlperiode bemisst. Sonst könnte die Versuchung groß sein, eine günstige Entscheidung einfach durch geschickte Terminwahl zu erzwingen. Insbesondere gilt das, falls man weiter auf Hare/Niemeyer setzt, wo unmotivierte Wechsel der Verteilung – wie derzeit in Schleswig-Holstein – ziemlich häufig zu erwarten sind. Schon in der letzten Legislaturperiode hat die Wahlkreiskommission unmittelbar nach Abschluss ihrer Arbeit feststellen müssen, dass ihre Vorschläge durch die neuesten Bevölkerungszahlen bereits wieder obsolet waren. Wenige Monate später sind sie dann in einem ergänzenden Bericht korrigiert worden.

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Fußnoten

1 Eigentlich sind gleich große Wahlkreise ein untaugliches Kriterium, wenn jeder Wähler ein möglichst gleiches Gewicht bei der Ermittlung eines Wahlkreisgewinners haben soll. Genau das ist aber notwendig, wenn Überhangmandate möglichst unwahrscheinlich gemacht werden sollen.

In einem Wahlkreis, der 25 % zu groß ist, hat jeder Wähler ein Gewicht, das 20 % unter dem Durchschnitt liegt. In einem Wahlkreis, der 25 % zu klein ist, ist das Gewicht dagegen bereits 33 1/3 % oberhalb vom Durchschnitt (jeweils gleiches Verhältnis von gültigen Stimmen zu Bevölkerung vorausgesetzt). Zu kleine Wahlkreise sind also wesentlich problematischer als zu große, weil sich dort die Abweichung auf weniger Wähler verteilt. Hier kann eine sehr kleine Anzahl an Wählern ihr Gewicht in ein Direktmandat umsetzen, dem schon bei absoluter Mehrheit und ohne Stimmensplitting keine Zahl von Zweitstimmen gegenübersteht, die das Mandat im Verhältnisausgleich rechtfertigen kann. Damit ist die Grundlage für ein Überhangmandat gelegt.

Toleranzgrenzen, die bezüglich des Wählergewichts symmetrisch sind, müssten bezüglich der Bevölkerung (bzw. besser der Wahlberechtigten) asymmetrisch sein. Einer Abweichung von ±25 % des Wählergewichts entspricht eine Abweichung von -20 % bis +33 1/3 % bei der Größe der Wahlkreise. Bei ±15 % wären es ungefähr -13,0 % bis +17,6 %.

Falls tatsächlich die gleiche Größe der Wahlkreise und nicht das gleiche Gewicht der Wähler das entscheidende Kriterium wäre, ist die Divisormethode mit Standardrundung (Sainte-Laguë) zur Aufteilung der Wahlkreise auf die Länder nicht ganz optimal. Man müsste dann zu einer Methode greifen, die das Vertretungsgewicht optimiert, was die Divisormethoden mit harmonischer (Dean) bzw. geometrischer (Hill/Huntington) Rundung in leicht unterschiedlicher Hinsicht tun. Beide bevorzugen aber im Gegensatz zu Sainte-Laguë systematisch die kleineren Länder.


von Andreas Schneider