Bundesverfassungsgericht

[Pressemitteilungen]

Pressemitteilung

31/97

10.04.1997


 

BVerfG: Grundmandatsklausel ist verfassungsgemäß

Der Zweite Senat des BVerfG hat aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 19. November 1996 durch Urteil vom 10. April 1997 einstimmig entschieden, daß die Grundmandatsklausel (§ 6 Abs. 6 S. 1, Halbs. 2 BWG) verfassungsgemäß ist. 1
Wegen des Sachverhalts und des Wortlauts der einschlägigen Vorschriften wird auf die Pressemitteilung vom 11. November 1996 Nr. 67/96 Bezug genommen. 2
Der Zweite Senat hat festgestellt, daß die Grundmandatsklausel und ihre Anwendung auf die PDS bei der Bundestagswahl vom 16. Oktober 1994 der verfassungsgerichtlichen Überprüfung standhalten. Er hat deshalb die gegen diese Wahl erhobene Wahlprüfungsbeschwerde zurückgewiesen. 3
Zur Begründung heißt es in dem Urteil u. a.: 4
Die Grundmandatsklausel greift zwar in die Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 Abs. 1 GG) und die Chancengleichheit der politischen Parteien (Art. 21 Abs. 1, 38 Abs. 1 S. 1 GG) ein (I.); dieser Eingriff ist jedoch gerechtfertigt (II.). 5

I.

Die Grundmandatsklausel gibt den Zweitstimmen für Parteien, die das 5 %-Quorum nicht erreicht haben, unterschiedliche Erfolgskraft: 6
Parteien ohne einen Zweitstimmenanteil von mindestens 5 v. . nehmen gleichwohl an der proportionalen Sitzverteilung nach § 6 BWG teil, sofern zumindest drei ihrer Wahlkreiskandidaten eine relative Mehrheit erzielt haben; demgegenüber bleiben Parteien, die keine oder nur bis zu zwei Direktmandate errungen haben, von der Verteilung von Listensitzen ausgeschlossen. Im ersten Fall werden die für die Partei abgegebenen Zweitstimmen berücksichtigt, im zweiten kommt den für die Partei abgegebenen Zweitstimmen keinerlei Erfolgswert zu. 7

II.

Diese Differenzierung ist gerechtfertigt. 8
1. Das Ziel der Verhältniswahl, den politischen Willen der Wählerschaft in den Parlamenten möglichst wirklichkeitsnah abzubilden, kann dazu führen, daß im Parlament viele kleine Gruppen vertreten sind und hierdurch die Bildung einer stabilen Mehrheit erschwert oder verhindert wird. Soweit es zur Sicherung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments geboten ist, darf der Gesetzgeber deshalb bei der Verhältniswahl den Erfolgswert der Zweitstimmen durch eine Sperrklauselregelung unterschiedlich gewichten. Dabei muß er jedoch auch die Funktion der Wahl als eines Vorgangs der Integration politischer Kräfte sicherstellen und zu verhindern suchen, daß gewichtige Anliegen im Volke von der Volksvertretung ausgeschlossen bleiben. 9
Dies kann durch eine Sperrklausel geschehen. Der Gesetzgeber darf den Zugang zum Parlament aber auch von der Überwindung einer von mehreren (alternativen) Hürden abhängig machen, wenn die Gesamtregelung im Wahlgebiet grundsätzlich keine höhere Sperrwirkung als 5 v. H. erzeugt. Die Differenzierung durch alternative Zugangshürden kann ihre Rechtfertigung darin finden, daß der Gesetzgeber der Sperrklauselregelung, die in erster Linie auf die Wahl eines funktionsfähigen Parlaments hinwirken soll, eine andere Zugangshürde zur Seite stellt, die im Zusammenwirken mit jener – ausbalancierend – dem Anliegenden einer effektiven Integration des Staatsvolkes Rechnung trägt. 10
2. Die Grundmandatsklausel dient – zusammen mit der 5 %-Klausel – dem von der Verfassung legitimierten Zweck des Ausgleichs teils gegenläufiger Ziele, nämlich ein funktionsfähiges Parlament zu schaffen und eine effektive parlamentarische Repräsentanz der nach dem Wählervotum bedeutsamen politischen Strömungen im Volk zu ermöglichen. Bei der Festlegung eines Kriteriums, das Rückschlüsse auf die Integrationskraft politischer Parteien zuläßt, ist der Gesetzgeber nicht darauf beschränkt, auf den Erfolg einer Partei in der Verhältniswahl abzustellen, wie dies mit der 5 %-Klausel geschehen ist. Vielmehr darf der Gesetzgeber eine besondere politische Kraft auch aus dem Ausmaß des Erfolges eine Partei in der Mehrheitswahl ableiten, die nach dem geltenden System der personalisierten Verhältniswahl der proportionalen Sitzverteilung vorgeschaltet ist. 11
Wenn parteiangehörige Abgeordnete Direktmandate erringen, drückt sich in der Wahl dieser Kandidaten in aller Regel zugleich auch das Ausmaß der Billigung der politischen Anliegen der Partei aus, die diese nominiert hat. Daher kann der Gesetzgeber in einem sich bereits in Parlamentssitzen niederschlagenden Erfolg ein Indiz dafür sehen, daß diese Partei nach dem Wählervotum besondere Anliegen aufgegriffen hat, die eine Repräsentanz im Parlament rechtfertigen. Aus diesem Grunde darf er Grundmandatsparteien mit allen errungenen Zweitstimmen an der Verteilung der Listenmandate teilnehmen lassen. 12
3. Die Einwände des Beschwerdeführers gegen die Eignung der Grundmandatsklausel als Mittel des Ausgleichs zwischen Funktionsfähigkeit des Parlaments und Integration des Wählerwillens sind nicht berechtigt. 13
Die Regelung unterläuft nicht die mit der Sperrklausel verfolgte Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments. Nach bisherigen Erkenntnissen bleibt das Erringen von drei Wahlkreisen durch eine kleine Partei die seltene Ausnahme. Angesichts dieser politischen Wirklichkeit muß der Gesetzgeber auch für die Zukunft nicht mit einer die Funktionsfähigkeit des Bundestages beeinträchtigenden Aufsplitterung der im Parlament vertretenen Kräfte rechnen. 14
Hinsichtlich der Zahl der Grundmandate enthält die Verfassung keine Vorgaben. Da die Sperrklauselregelung sicherstellt, daß die Gesamtregelung des § 6 Abs. 6 S. 1 BWG bundesweit keine höhere Sperrwirkung als eine 5 %-Klausel entfaltet, ist es der Beurteilung des Gesetzgebers anheimgegeben, auf wieviel Wahlkreiserfolge er als Ausdruck eines besonderen politischen Gewichts abhebt. Schon deshalb kann es von Verfassungs wegen nicht beanstandet werden, daß der Gesetzgeber nach der Vergrößerung des Wahlgebiets durch die Wiedervereinigung Deutschlands die erforderliche Anzahl (drei Grundmandate) nicht erhöht hat. 15
Urteil vom 10. April 1997 – 2 BvC 3/96 –
Karlsruhe, den 10. April 1997  

 


eingetragen von Matthias Cantow